Archiv der Kategorie: C 1 Prävention

Prävention weiter denken

C 1-4
Florian Schulze

Prävention weiter denken

Der Konsum von Rauschmitteln, gleichgültig ob legal oder illegal, hat vielfältige Ursachen. Aus gesellschaftlichen, sozialen und individuellen Einflussfaktoren resultiert eine mehr oder weniger ausgeprägte Affinität zu künstlich hervorgerufenen positiven Gefühlen und veränderter Wahrnehmung. Diese steht in einem bestimmten Verhältnis zur Risikobereitschaft, die von ebenso vielen Determinanten beeinflusst wird.

Das Abstinenzdogma schadet
Die klassische Drogenprävention vermittelt in Umsetzung der politischen Null-Toleranz-Strategie das Bild von der ausschließlich zerstörerischen Droge, häufig gepaart mit abschreckenden Beispielen zerrütteter Existenzen. Momentan werden etwa gerne VorherNachher-Bilder von Crystal-Konsumierenden verwendet (vgl. auch Barsch in diesem Band). In der Regel wird die große Anziehungskraft, die Drogen auf einige Menschen ausüben, kaum thematisiert – geschweige denn, wie man mit dieser Anziehungskraft umgehen kann. Es wird auf die eine Seite der Medaille, die Risikobereitschaft, abgestellt, und zwar unabhängig vom tatsächlichen Schadenspotenzial der einzelnen Drogen. Häufig gibt es nur „die Drogen“, so wie es das Betäubungsmittelgesetz auch vorsieht. Wie zynisch müssen diese Darstellungen auf Jugendliche wirken, deren Eltern sich mit 5€-Schnaps legal in die Abhängigkeit getrunken haben.

Gerade in Deutschland wird zu wenig zwischen risikoarmem und riskantem Konsum unterschieden jedenfalls bei illegalisierten Rauschmitteln. Jemand, der auf einem Festival zur Ecstasy-Dosis greift, wird rechtlich und gesellschaftlich in einen Topf geworfen mit dem Crystal-Abhängigen. Dabei haben die beiden Konsumierenden, was Gefährdung, Konsummotivation und Hilfebedürftigkeit angeht, nur wenig gemeinsam. Man kann in diesem Zusammenhang darüber diskutieren, ob risikoarmem Konsum überhaupt vorgebeugt werden muss.
Es verwundert nicht, dass die Null-ToleranzPrävention nur wenig Wirkung zeigt. Zu sehr ignoriert sie nicht nur die Lebensrealität von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, sondern auch medizinisch-wissenschaftliche Daten und Erkenntnisse aus der Public-Health-Wissenschaft zur Wirksamkeit von Maßnahmen der Gesundheitsförderung.
Daran wird auch deutlich, dass es bei Abstinenz-Belehrungen nicht darum geht, Menschen zu befähigen, sondern darum, dass sie gehorsam sind. Sie sollen vor sich selbst geschützt werden, denn man traut ihnen nicht zu, selbstbestimmt verantwortlich zu handeln. Der erhobene Zeigefinger und die simplen Vorschriften für den „korrekten“ Umgang mit Drogen zeugen von einem Menschenbild, das eher ins neuzehnte als ins einundzwanzigste Jahrhundert gehört.

Das alte erzieherische Verständnis wurde mittlerweile in der praktischen Präventionsarbeit zum Teil von der Wirklichkeit überholt. Doch ähnlich wie etwa bei Substitutionsbehandlungen wirken akzeptierende Ansätze trotz und nicht wegen des Betäubungsmittelrechts und die Handelnden stehen teils in Gefahr, sich strafbar oder zumindest bei ihren Trägern sehr unbeliebt zu machen (siehe u.a. Ullmann in diesem Band). Ebenso wie Ärztinnen und Ärzte von Rechts wegen zum Teil internationale Leitlinien missachten müssen, wird es Menschen in der Prävention schwer gemacht, die Erkenntnisse der Public-HealthWissenschaft anzuwenden. Hier müsste die Förderung gesundheitlicher Ressourcen, drogenbezogen etwa die Förderung der Konsum-kompetenz, weit oben auf der To-do-Liste stehen.
Ohne Partizipation der Betroffenen und letztlich eine gemeinsame individuelle Entscheidungsfindung findet Präventionsarbeit nur wenig Akzeptanz. Das stört viele politisch Verantwortliche kaum, können sie doch mit ihren Kampagnen allen zeigen, wie „ernst“ sie den Kampf gegen die Drogen nehmen.

Konsumierende verstehen
Voraussetzung für eine wirksame Präventionsarbeit ist das Verständnis davon, warum jemand zu berauschenden Mitteln greift und bereit ist, dafür gesundheitliche Risiken in Kauf zu nehmen. Doch gerade die Konsummotivation und ihre Einflussfaktoren sind für viele Konsumentenund Substanzgruppen nur unzureichend untersucht. Sicherlich ist der Ausdruck „Man hat nicht das Problem wegen der Droge, sondern nimmt die Droge wegen des Problems“ zu kategorisch gedacht. Trotzdem lohnt es sich, das vorherrschende Verständnis von Ursache und Wirkung einmal umzudrehen und mit der Präventionsarbeit dort zu beginnen, wo der Wunsch nach Realitätsflucht als Problemlösungsstrategie entsteht. Wir wissen, dass sehr viele Menschen mit einer Suchterkrankung eine psychiatrische Ko-Erkrankung aufweisen. Bekannt ist auch etwa der hohe Anteil an Frauen, die vor ihrer Suchterkrankung durch sexualisierte Gewalt traumatisiert worden sind. Das macht deutlich, dass gute Drogenprävention im Rahmen einer Gesundheitsförderungsstrategie auch die Ursachen problematischen Drogenkonsums verstehen und angehen muss. Sicher entziehen sich viele individuelle Probleme der direkten politischen Beeinflussung. Aber umgekehrt müssen politische Maßnahmen auf ihre Auswirkungen auf Gesundheitschancen, auch in Bezug auf Schädigungen durch Substanzkonsum hin überprüft werden.

Drogenbezogene Probleme sind nicht allein innerhalb der Drogenpolitik lösbar Nur wer abstinent ist oder die Abstinenz anstrebt, verdient gesellschaftlichen Rückhalt – so die Botschaft, die sich wie ein roter Faden durch die Drogenpolitik der letzten Bundesregierungen zieht, nicht nur in der offiziellen Präventionsstrategie. Einige weitere Beispiele: Therapien müssen laut Gesetz bzw. Verordnung vorwiegend das Abstinenzziel verfolgen und damit zum Teil medizinische Leitlinien missachten. Konsumierende von sogenannten „harten Drogen“ werden grundsätzlich als charakterlich ungeeignet zum Führen eines Fahrzeugs angesehen – im   Gegensatz zum Umgang mit Alkoholsündern unabhängig davon, ob die Verkehrssicherheit tatsächlich gefährdet wurde (siehe Pütz in diesem Band). Wer durch schlechte Drogenqualität zu Schaden kommt, ist nach konservativer Logik selbst schuld, denn nur abstinente oder wenigstens alkoholkonsumierende Menschen verdienen einen Verbraucheroder Jugendschutz.

Der Konsum illegalisierter Drogen stellt nach vorherrschender Sicht vorwiegend ein gravierendes persönliches Versagen dar. Diese Herangehensweise widerspricht allen wissenschaftlichen Erkenntnissen, wonach der Konsum und die Abhängigkeit von Substanzen von einer Vielzahl gesellschaftlicher, sozialer und nicht zuletzt biologischer Faktoren abhängen. Sie ermöglicht es der Politik allerdings, eine Mitverantwortung für drogenbezogene Probleme von sich zu weisen. Stattdessen kauft sie sich mit „Aufklärungskampagnen“ und anderen Feigenblättern frei von ihrer Aufgabe, für gesundheitsförderliche Lebenswelten Sorge zu tragen. Drogenprävention im politischen Sinn darf nicht dabei stehen bleiben, die sozialen Auswirkungen anderer Politikfelder abzufedern.

Vielmehr spielt der salutogenetische Ansatz eine entscheidende Rolle: Welche Anforderungen stellt das Leben an mich und welche Lösungsressourcen stehen mir zur Verfügung? Aufgabe guter Gesundheitsförderung ist es, diese gegenläufigen Größen in ein „gesundes“ Verhältnis zueinander stellen. Nur so werden tatsächlich die Ursachen von problematischem Drogenkonsum angegangen und zugleich die Ursachen anderer vermeidbarer Krankheiten. Der Erhalt von Gesundheit als psychisches, physisches und soziales Wohlbefinden (Definition der Weltgesundheitsorganisation) ist der Schlüssel dafür, drogenbedingte Probleme zu vermeiden. Drogenkonsum als individuelles Defizit zu begreifen und gesetzlich zu verbieten, zeugt auch unter diesem Gesichtspunkt von bemerkenswerter Kurzsichtigkeit.

Letztlich muss es bei erfolgreicher Prävention (um bei dem drogenpolitisch gebräuchlichen Begriff zu bleiben) um die Förderung von 61  Lebenskompetenzen und Gewährleistung von Teilhabechancen gehen. Auch hier greift der paternalistische „Du sollst“-Ansatz nicht. Teilhabe und selbstbestimmtes Leben sind vor allem durch gute und gleiche Chancen etwa in Bildung, Gesundheit und gesellschaftlicher Mitbestimmung zu erreichen. Nur wer sein Leben und seine Umwelt als gestaltbar erlebt, wird Rauschmittel nicht als Problemlösung missverstehen und entsprechend mit diesen umgehen können. Dass etwa Bildungsund Gesundheitschancen und auch Drogenkonsum häufig entscheidend vom Sozialstatus abhängen, ist wissenschaftlich unumstritten. Viele Untersuchungen deuten darauf hin, dass der Weg zu mehr Chancengleichheit effektiv nur über mehr Verteilungsgerechtigkeit zu erreichen ist. Daher ist Drogenprävention – wie andere Maßnahmen der Gesundheitsförderung – hochpolitisch. Vielleicht fällt es vielen politischen Akteuren deshalb so schwer, die gesellschaftliche und wissenschaftliche Realität zur Kenntnis zu nehmen. Drogenkonsum ist immer auch ein Spiegel der Gesellschaft. Es ist kein Zufall, dass in unserer Leistungsgesellschaft die Tendenz weg von Opiaten hin zu aufputschenden und stimulierenden Substanzen geht. Auch dass etwa in Griechenland im Zuge der Staatskrise der Drogenkonsum massiv angestiegen ist, verwundert nicht. Warum fällt aber die Einsicht so schwer, dass eben nur gesellschaftliche Veränderungen effektiv das DrogenKonsumverhalten verändern können? Drogenprävention im politischen Sinn darf nicht dabei stehen bleiben, die sozialen Auswirkungen anderer Politikfelder abzufedern.

Hepatitis C und Drogengebrauch – über das Fehlen einer nationalen Strategie gegen Virushepatitis in Deutschland

Von Heino Stöver, Dirk Schäffer und Astrid Leicht

Die Virushepatitis ist laut WHO ein „weltweit bedeutendes Gesundheitsproblem“ (63. Weltgesundheitsversammlung der WHO 2010), Regierungen werden aufgefordert, multisektorielle nationale Strategien zur Prävention, Diagnostik und Behandlung von viralen Hepatitiden zu entwickeln und umzusetzen – basierend auf dem lokalen epidemiologischen Kontext (Global Commission on Drug Policy 2013; WHO 2014). Etwa 2 – 3 % der Weltbevölkerung (130 – 170 Millionen) hatte Kontakt mit dem Hepatitis-C-Virus (HCV). Hepatitis C breitete sich weltweit im 20. Jahrhundert insbesondere über eine parenterale Übertragung über die Ausbreitungswege „unsterile Injektionsutensilien“ und „injizierenden Drogenkonsum“ aus.

Auch in Deutschland sind ca. eine Million Menschen von einer chronischen Virushepatitis betroffen: 500.000 Menschen mit dem Hepatitis B(HBV), und fast ebenso viele mit dem Hepatitis C-Virus. Die jährlich an das RKI übermittelten HCV-Fälle bewegen sich über 5.000, die von HBV über 1.800 (RKI 2013, S. 262, 268). Die chronische Hepatitis C ist heutzutage der häufigste Grund für eine Lebertransplantation. Die Zahl der an den Folgen einer Virushepatitis verstorbenen Menschen ist hoch und wird in den nächsten Jahren massiv ansteigen.

Viele HBV/HCV-Infizierte wissen nichts von ihrer Infektion. Die Tatsache, dass viele Hepatitis Bund C-Infektionen unentdeckt bleiben, weil sie keine Symptome verursachen, verdeutlicht die Notwendigkeit, gezielt und verstärkt potentiell Betroffene zu informieren und den Zugang zur Testung, Impfung und Therapie der Virushepatitis zu verbessern (WHO 2013).

Neuinfektionen betreffen hauptsächlich intravenös Drogen applizierende Menschen. Bei mehr als der Hälfte der neu gemeldeten Fälle, bei denen Angaben zum möglichen Infektionsrisiko vorlagen, wurde intravenöser Drogenkonsum genannt. Unter intravenös Drogen Gebrauchenden ist die Hepatitis C Prävalenz mit 60 – 80% Hepatitis C-Antikörperprävalenz und über 40% chronischer Hepatitis CInfektion enorm hoch (RKI 2012). Dem steht eine sehr geringe Behandlungsquote gegenüber. Es bestehen immer noch eine Reihe von Barrieren und Vorbehalte gegenüber der Behandlung dieser Gruppe: die Angst vor ReInfizierungen, Annahmen geringer Compliance, Kostenargumente etc. Diese Barrieren müssen systematisch niedergerissen werden. Die Forschung hat gezeigt, dass die HCV-Behandlung – auch bei DrogengebraucherInnen – sicher und effektiv ist (Robaeys et al. 2013).

Darüber hinaus trägt eine erfolgreiche HCVBehandlung substanziell zur Steigerung der Lebensqualität bei (Grebely et al. 2013). Die noch vor einigen Jahren gestellte Frage: „Warum HCV-infizierte DrogenkonsumentInnen behandeln?“, muss umgekehrt werden in die Frage: „Warum erfolgt keine HCVBehandlung von injizierenden DrogenkonsumentInnen?“

Aktionsplan Virus-Hepatitis: Fehlanzeige in Deutschland
In Deutschland gelang es, auf der Grundlage eines nationalen HIV-/Aids-Aktionsplans der Bundesregierung die Inzidenz und Prävalenz von HIV bei DrogengebraucherInnen in den letzten 15 Jahren deutlich zu senken.

Im Gegensatz dazu blieben die Erfolge in der HCV-Prävention aus. Die höhere Infektiosität des Hepatitis C-Virus und die Vorbehalte der Medizin, Drogenabhängigen eine HCV-Therapie zu ermöglichen, sind dafür wesentliche Gründe. Umso wichtiger wäre eine abgestimmte nationale Strategie, die den politischen Willen, diese Situation zu verändern, deutlich macht und den Handlungsrahmen bietet. Andere europäische Länder (Frankreich, Schottland) haben schon seit vielen 57  Jahren Aktionspläne und können Erfolge in der Epidemiologie, Prävention und Therapie nachweisen. Die deutsche Politik hat offenbar vergeblich gehofft, über eine „HuckepackStrategie“ mit der HIV/AIDS-Bekämpfung auch Virushepatitiden angemessen und entsprechend bekämpfen zu können. Dies erweist sich als gesundheitspolitische Sackgasse.

Hepatitis C-Behandlung: der Quantensprung steht bevor
Neben verstärkten Anstrengungen, über zielgruppenahe Präventions-, Testund Beratungsangebote das Wissen bei DrogengebraucherInnen über Infektionswege und Möglichkeiten der Infektionsvermeidung detailliert zu informieren, muss es das vorrangige Ziel sein, das Instrument „Behandlung“ in einem solchen Umfang einzusetzen, dass es mittelfristig zu einer Reduzierung der Hepatitis CPrävalenz kommt.

Eine vielbeachtete Studie aus Großbritannien, der eine mathematische Modellrechnung zugrunde liegt, unterstreicht, dass die Prävalenz der Hepatitis C deutlich gesenkt werden kann: So kann mit einer Therapierate von jährlich 20 HCV-Therapien pro 1000 DrogengebraucherInnen innerhalb von 10 Jahren eine Reduzierung der Prävalenz um 30 Prozent erreicht werden (Martin et al. 2011). Dieses Ziel zu erreichen, ist durchaus realistisch und demnach äußerst erfolgversprechend.

Darüber hinaus hat die Hepatitis C-Behandlung mit dem Einsatz von Medikamenten, die direkt das Virus angreifen, einen Quantensprung vollzogen. Neben der Tatsache, dass die Rate der dauerhaften Viruselimination bei Genotyp 1 bei bis zu 90% liegt, wird die Therapiedauer auf 12 bzw. 24 Wochen gesenkt.

Diese verbesserten Behandlungsmöglichkeiten können ihre Wirkung nur entfalten, wenn es gelingt, Hepatologen und Gastroenterologen – also Ärzte, die die höchste Kompetenz in der Behandlung der HCV Therapie aufweisen – dazu zu bewegen, die Gruppe der Drogengebraucher/Innen zu behandeln. Ferner gilt es Suchtmediziner und aktuell substituierende Ärzte, die bereits DrogengebraucherInnen seit vielen Jahren zu ihren Patienten zählen, entsprechend fortzubilden, dass sie eine HCV Behandlung in hoher Qualität durchführen können.

Solange die Kriminalisierung Drogen Gebrauchender fortgesetzt wird und entsprechend DrogengebraucherInnen bis zu einem Viertel aller Inhaftierten ausmachen, wird die Situation in Haftanstalten eine besondere sein. Die beiden Interventionen „Spritzenvergabe“ und „Substitution“ sind seit mehr als 20 Jahren bekannte, evidenzbasierte und überaus erfolgreiche Strategien, um die HIV/AIDSund HCV-Ausbreitung in Freiheit einzudämmen. Im Setting „Haft“, in dem 15-20.000 Drogenabhängige leben (Stöver 2012), macht man davon keinen bzw. nur geringen Gebrauch. Nur wenige Zahlen verdeutlichen dies: in nur 0,5% aller Haftanstalten (um genau zu sein: in einer) erfolgt eine Infektionsprophylaxe einschließlich eines Spritzentausches, nur 10% aller inhaftierten Drogenkonsument/innen befinden sich in einem Opiatsubstitutionsprogramm (im Gegensatz zu 40 bis 50% in Freiheit).

Strategiegruppe „Virushepatitis“: Ein deutscher „Aktionsplan Virushepatitis“ liegt vor
Im Jahr 2011 haben sich das Aktionsbündnis „Hepatitis und Drogengebrauch“ (vertreten durch DAH, Akzept, JES, Bundesverband der Eltern und Angehörigen für akzeptierende Drogenarbeit, Deutsche Gesellschaft für Suchtmedizin), die Deutsche Leberhilfe und die Deutsche Leberstiftung zusammengefunden, um gemeinsam einen Aktionsplan für eine nationale Strategie gegen Virushepatitis in Deutschland“ zu entwerfen. Dieser wurde im Juli 2013 der Öffentlichkeit vorgestellt. Er dient als Grundlage zur Verbesserung der Situation HBV/HCV-Infizierter (Aktionsbündnis „Hepatitis und Drogengebrauch“ et al. 2013).
Den Aktionsplan haben die Fachund Betroffenenverbände „von unten“ entwickelt, weil eben nach über 20-jähriger Thematisierung der Verbreitung, Prävention und  Therapie der Virushepatitiden und der Einforderung einer erhöhten Aufmerksamkeit und zielgerichteter Aktivitäten wenig passiert ist. Zwar hat das Bundesministerium für Gesundheit für die Zielgruppe der i.v. DrogenkonsumentInnen beispielsweise mehrere Fachkonferenzen und ein Handbuch „Hepatitis C und Drogengebrauch“ (Aktionsbündnis 2013) finanziert, ohne allerdings die Versorgungsengpässe in Testung, Prävention, Beratung und Therapie substanziell anzugehen.

Der „Aktionsplan für eine nationale Strategie gegen Virushepatitis in Deutschland“ versteht sich als ein inhaltlicher Rahmen und eine Aufforderung an die Politik und Fachverwaltung, die Herausforderung „Virushepatitis“ anzunehmen. Vorrangig gilt es hierbei:
– die zielgruppenspezifische Information und Aufklärung zu intensivieren,
– szenenahe Beratungsund Testangebote zu erweitern,
– die Realisierung von HAV-/ HBV Impfkampagnen entsprechend der STIKO 41 Indikation und
– eine Strategie gegen Virushepatitis in das „Public-Health-Konzept“, als Teil einer sozialen und politischen Strategie, einzubinden.

Am Ende macht der Aktionsplan auch klare Angaben zur Umsetzung der Maßnahmen – angelehnt an Task-Force-Strukturen in den Ländern, in denen HCV-Bekämpfungspläne bereits erfolgreich durchgeführt wurden.

Im Laufe des Jahres 2014 sollte die Umsetzung des „Aktionsplans Virushepatitis“ Gestalt annehmen!

41 STIKO: ständige Impfkommission

Literatur
Aktionsbündnis „Hepatitis und Drogengebrauch (2013): Hepatitis C und Drogengebrauch. Grundlagen, Therapie, Prävention, Betreuung und Recht. Berlin 3. Auflage, http://www.akzept.org/hepatitis_c_fachtag/aktionsb undnis/pdf_13/handbuch_hepatitis_280613.pdf
Aktionsbündnis „Hepatitis und Drogengebrauch“, Deutsche Leberhilfe e.V., Deutsche Leberstiftung (2013): Aktionsplan für eine nationale Strategie gegen Virushepatitis in Deutschland. Hannover, Juli 2013 http://www.deutscheleberstiftung.de/aktuelles/aktionsplan/
Global Commission on Drug Policy (2013): The Negative Impact Of The War On Drugs On Public health: the Hidden Hepatitis C Epidemic. Report of the Global Commission on Drug Policy. www.globalcommissionondrugs.org
Grebely, J. et al. (2013): Moving the Agenda Forward: the Prevention and Management of Hepatitis C Virus Infection Among People Who Inject Drugs. CID 2013: 57, S 29-38
Martin, N.K., Vickerman, P., Foster, G.R., Hutchinson, S., Goldberg, D., & Hickman, M. (2011): Can Antiviral Therapy for Hepatitis C Reduce the Prevalence of HCV Among Injecting Drug User Populations? A Modelling Analysis of its Prevention Utility. J Hep. 54(6):1137-44.
RKI (2012): Epidemiologisches Bulletin. 20. August 2012 / Nr. 33 RKI (2013): Epidemiologisches Bulletin. 29. Juli 2013 Nr.30

Neue psychoaktive Substanzen (NPS): Spezifische Risiken und Prävention

C 1-2

Cornelia Morgenstern

Neue psychoaktive Substanzen (NPS): Spezifische Risiken und Prävention

1. Beschreibung des Phänomens Als neue psychoaktive Substanzen (NPS), in den Medien auch häufig „Legal Highs“ genannt, werden Substanzen bezeichnet, die nicht den UN-Drogenkonventionen unterliegen (Rat der Europäischen Union 2005). Es sind Substanzen, die eine Alternative oder einen Ersatz zu herkömmlichen illegalen Drogen bieten können und die in erster Linie den Vorteil haben sollen, nicht nachweisbar zu sein und einen mehr oder minder legalen Status zu haben. Mittlerweile wurden allerdings eine Vielzahl dieser sogenannten „Legal Highs“ in Deutschland in das Betäubungsmittelgesetz aufgenommen. Ein weiteres Merkmal des NPS-Phänomens ist die Verbreitung dieser Substanzen über das Internet, dazu gehört sowohl die Verfügbarkeit von Informationen über diese Substanzen in Online-Foren, Wikipedia oder Blogs als auch der Verkauf über Online-Shops. Die OnlineShops werden wiederum über Social Media wie Facebook, Twitter, Youtube und andere beworben.

Seit dem Jahr 2008, als die Räuchermischung „Spice“ (vgl. Werse / Müller 2009) in Headshops auftauchte und durch die Berichterstattung in den Medien zu einer größeren Verbreitung kam, beschäftigen sich auch Strafverfolgungsbehörden und Gesetzgeber sowie Akteure aus dem Bereich Drogenpolitik und -prävention mit NPS. Die Zahlen der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EMCDDA) zu NPS klingen alarmierend: 73 neue Substanzen wurden im Jahr 2012 registriert, es wurden 693 Shops im Internet gezählt, die solche Substanzen anbieten (EMCDDA 2013) und es wird angenommen, dass es mehrere Tausend neue psychoaktive Substanzen gibt (Europäische Kommission 2013). Allerdings bleiben die Prävalenzzahlen – soweit vorhanden – eher niedrig (vgl. Werse im selben Band)

2. Spezifische Risiken Ignorieren kann man diese Substanzen sicherlich nicht, da ihr Konsum erhebliche gesundheitliche Risiken mit sich bringen kann. Dabei stehen Intoxikationen häufig in Verbindung mit Mischkonsum und falschen Dosierungen. Mischkonsum und hohe Dosierung sind dabei häufig nicht beabsichtigt, sondern beruhen auf mangelnden Informationen zu den Produkten oder auf Produktionsfehlern. Die Universitätsklinik Freiburg befasst sich mit der Datensammlung zu Notfällen in Verbindung mit dem Konsum von synthetischen Cannabinoiden (bzw. Cannabinoidmimetika): „Acute toxic symptoms associated with their use are also reported after intake of high doses of cannabis, but agitation, seizures, hypertension, emesis and hypokalaemia seem to be characteristic to the synthetic cannabinoids, which are high-affinity and high-efficacy agonists of the CB1 receptor. Thus, these effects are due probably to a strong CB1 receptor stimulation.” (Hermanns-Clausen 2013). Demnach können synthetische Cannabinoide also aufgrund ihrer Rezeptorbindung weitaus schwerwiegendere akute körperliche Auswirkungen haben als der „Originalstoff“ THC. Ähnliches dürfte auf Langzeitrisiken zutreffen, über die mangels entsprechender Daten aber bislang wenig bekannt ist.

Die EMCDDA hat zu einzelnen Substanzen bereits Risikobewertungen erstellt. Dazu gehört beispielsweise die Substanz 4-MA (4Methylamphetamin), die mit Todesfällen in Belgien, Dänemark, den Niederlanden und dem Vereinigten Königreich in Verbindung gebracht wird (EMCDDA 2014). Ein grundlegendes Risiko beim Konsum dieser Substanzen liegt in der mangelnden Erfahrung im Umgang mit ihnen und in fehlenden wissenschaftlichen Erkenntnissen über Wirkungsweisen und Langzeitfolgen des Konsums. Das eigentliche Risiko dieser Substanzen geht also von der unzureichenden Information der Konsumierenden aus (Stichwort: Risikomündigkeit).

3. Gruppen von NPS Eine Besonderheit des Phänomens der neuen psychoaktiven Substanzen ist auch das breitgefächerte Spektrum an synthetischen Substanzen, das unter diesem Begriff subsumiert wird. Die in Deutschland am weitesten verbreitete Produktgruppe der Räuchermischungen, die synthetische Cannabinoidmimetika enthalten, werden unter so kreativen Produktnamen wie Crazy Monkees, Bonzai Citrus oder Millenium Platinum in bunten Tütchen verkauft. Die synthetischen Cannabinoide, die in diesen Räuchermischungen wirken, umfassen alleine hunderte Substanzen und haben Bezeichnungen wie JWH-018, benannt nach dem Chemiker John W. Huffman, oder AM-2201, benannt nach dem Chemiker Alexandros Makriyannis. Ihre Wirkungsweise wird zum Teil ähnlich wie Cannabis beschrieben, aber von einigen Substanzen, insbesondere denen der neueren Generation, wird gesagt, dass sie von ihrer Wirkungsweise als eine „eigene Droge“ gelten können. Eine weitere große Gruppe der neuen psychoaktiven Substanzen umfasst die „Research Chemicals“, neue psychoaktive Substanzen in Reinform. Hier reicht das Spektrum der Wirkungsweise der verschiedenen Substanzen von stimulierend über halluzinogen bis sedierend. Viele dieser Substanzen wurden übrigens von Alexander Shulgin in seinen Büchern PiHKAL und TiHKAL bereits in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts beschrieben; sie erreichten eine größere Aufmerksamkeit aber erst über die Verbreitung durch das Internet zu Beginn diesen Jahrtausends. Die dritte Gruppe stellen die sogenannten „Badesalze“ oder Partypillen dar, in denen stimulierende und/ oder empathogene Stoffe enthalten sind und die als Mischungen, ähnlich wie Räucher mischungen, in bunten Tütchen verkauft werden.

4. Rechtliche Situation Die große Zahl von psychoaktiven synthetischen Substanzen führte in den vergangenen Jahren zu einer Art Wettrennen zwischen Strafverfolgung und Gesetzgebung auf der einen Seite und Händlern und Produzenten 54    von NPS auf der anderen Seite, das an das Wettrennen zwischen Hase und Igel erinnert. Während man auf der einen Seite durch Verbote und Strafen das Angebot einzudämmen versuchte, wurden auf der anderen Seite Verbote durch immer neue Substanzen, die sich häufig nur minimal von der vorhergehenden Substanz unterscheiden, umgangen. Dieses Wettrennen setzt sich bislang mit anscheinend zunehmender Geschwindigkeit fort. Ein gravierendes Problem dabei ist, dass neu auf den Markt kommende Substanzen häufig noch potenter sind als die vorangegangenen und dass man noch weniger über sie weiß. Aus diesem Grund wird auch über alternative Strategien gegenüber dem Verbot möglichst vieler Substanzen nachgedacht.

Eine alternative Strategie wird zum Beispiel in Neuseeland erprobt, indem dort gesetzliche Rahmenbedingungen für die Regulierung des Verkaufs von „Legal Highs“ geschaffen wurden (Psychoactive Substances Act 2013). Bislang unterliegen neue psychoaktive Substanzen keinen Kontrollmaßnahmen der UN. Die EU möchte zukünftig im Hinblick auf NPS schnellere Verfahren und einen abgestuften Ansatz einführen (vgl. Europäische Kommission 2013). In Deutschland werden zurzeit vorrangig immer mehr Substanzen dem BtMG unterstellt. Welche Rolle das Arzneimittelgesetz (AMG) zukünftig für NPS spielen wird, unterliegt rechtlichen Prüfungen, ebenso wie die Einführung einer Stoffgruppenregelung. Derzeit folgt man hierzulande der Rechtsauffassung, dass NPS unter den Anwendungsbereich des AMG fallen und, da sie als „bedenkliche Arzneimittel“ gelten, nicht verkauft werden dürfen; weshalb der Handel über „Headshops“ und ähnliche Geschäfte weitgehend unterbunden wurde (über ausländische Onlineshops aber ungehindert weiterläuft). Diese Rechtsauffassung ist allerdings stark umstritten und liegt derzeit dem EuGH zur Entscheidung vor (vgl. Pollähne 2013).

5. Prävention Die unüberschaubar große Anzahl von NPS bei wiederum relativ geringen Verbreitungszahlen stellen die Prävention vor spezielle  Herausforderungen: Einfache Broschüren, die über das Phänomen informieren, können nur oberflächlich und allgemein gehalten sein und sind eher an unerfahrene Neugierige oder an interessierte Fachkräfte und Eltern gerichtet. Risikominderung bei bereits Konsumierenden kann durch spezifische Beschreibungen zu den Substanzen oder auch zu Substanzgruppen erfolgen. Dazu braucht es die Voraussetzung von Websites, um entsprechende Datenmengen und Updates zu ermöglichen (z.B. legal-high-inhaltsstoffe.de; vgl. auch Erowid.org). Es müssen allerdings fortlaufend Forschungsergebnisse und Analysen von Substanzen online gestellt werden, um halbwegs aktuell und evidenzbasiert informieren zu können. Dies ist derzeit nur unzureichend möglich, da z.B. aus Rechtsgründen keine quantitativen Angaben über Inhaltsstoffe analysierter Produkte gemacht werden dürfen. Eine wichtige Rolle bei der Information der Konsumierenden spielen auch Erkenntnisse aus Drug Checking-Projekten, wie sie beispielsweise in der Schweiz durchgeführt werden (Bücheli 2012). Fachleute wie Pharmakologen, Chemiker und Mediziner sind gefragt, die zur Risikobewertung beitragen können. Dies wiederum ist aufwendig und kostspielig und ist nicht mit der Veröffentlichung einer Broschüre im Fünf-JahresRhythmus getan.

Andere Wege für ein risikominimierendes Verhalten der Konsumierenden von NPS sind nutzergenerierte Inhalte in Social Media, die von Konsumierenden weltweit zur Verfügung gestellt werden. Hier leisten Wikipedia-Einträge und Online-Foren einen wichtigen Beitrag (Werse / Morgenstern 2011). Vorteil dieser Informationswege ist zudem ihre zeitlich und räumlich nahezu unbegrenzte Verfügbarkeit, sowie die Möglichkeit, sich anonym und gleichzeitig (semi-)öffentlich auszutauschen.

6. Fazit Gerade bei dem weiten Feld der NPS ist die Risikomündigkeit der Konsumierenden von zentraler Bedeutung. Dazu ist ein möglichst freier, öffentlicher und anonymer Austausch und Zugang zu allen Informationen über die   Substanzen und Produkte notwendig. Ein umfassendes Drug Checking-Angebot würde bei NPS eine wichtige Rolle spielen, um Risiken zu vermeiden. Verbote von Substanzen und Restriktionen gegenüber Foren erhöhen das Risiko der NPS nur und gerade nationale Beschränkungen bringen hier wenig bis gar nichts. Es kommen potentere Substanzen auf den Markt, das Unwissen der Konsumierenden ist noch größer und die Suche nach einer Substanz, die noch legal und nicht nachweisbar ist, führt zu gefährlichen Ausgangsbedingungen für die Konsumierenden. Diese Erfahrungen wurden in Neuseeland bereits gemacht und die daraus notwendigen Konsequenzen wurden in der Veränderung der rechtlichen Rahmenbedingungen vollzogen, zumindest im Ansatz. Ob sich der neuseeländische Weg als erfolgversprechend zeigt, wird man abwarten müssen.

Literatur
Auwärter, V. (2011): Wovon reden wir eigentlich? Überblick über die Substanzen und ihre Wirkung; Jahrestagung der Bundesdrogenbeauftragten: Der Stoff aus dem Chemielabor. Speed, Spice & Co; Berlin,
http://www.drogenbeauftragte.de/fileadmin/dateiendba/DrogenundSucht/Illegale_Drogen/Heroin_ander e/Downloads/Auwaerter.pdf
Bücheli, A. (2012): Drug Checking und der Konsum von „Legal Highs“. Eine Zwischenbilanz nach über 15 Jahren Praxis in der Schweiz; in: Konturen. Fachzeitschrift für Sucht und soziale Fragen, 2/2012, 33. Jahrgang, Bad Orb, 28-32
Europäische Kommission 2013: Vorschlag für eine VERORDNUNG DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES über neue psychoaktive Substanzen, Brüssel,
http://ec.europa.eu/justice/antidrugs/files/ com_2013_619_de.pdf
European Monitoring Centre for Drugs and Drug Addiction (EMCDDA) 2014: Report on the risk assessment of 4-methylamphetamine in the framework of the Council Decision on new psychoactive substance, Risk Assessments, Publications Office of the European Union, Luxembourg, http://www.emcdda.europa.eu/publications/riskassessment/4-MA
Hermanns-Clausen, M. et al. 2013: Acute toxicity due to the confirmed consumption of synthetic cannabinoids: clinical and laboratory findings; Addiction 2013 Mar;108:534-44, http://www.ncbi.nlm.nih.gov/ pubmed/22971158
Pabst, A., Kraus, L., Gomes de Matos, E. & Piontek, D. (2013). Substanzkonsum und substanzbezogene Störungen in Deutschland im Jahr 2012 [Substance use and substance use disorders in Germany in 2012]. Sucht, 59 (6), 321-331; Open Access: http://www.psycontent.com/content/946m87w0g48 12vu8/fulltext.pdf.
Psychoactive Substances Act (2013), issued by The Parliament of New Zealand, http://www.legislation.govt.nz/act/public/2013/005 3/latest/DLM5042921.html?src=qs
Pollähne, H. (2013): Legal Highs vor dem EuGH. Eine Droge ist kein Arzneimittel; in: Legal Tribune, http://www.lto.de/recht/hintergruende/h/eugh-legalhighs-amg-verkauf-strafbar/
Rat der Europäischen Union 2005: Amtsblatt der Europäischen Union. BESCHLUSS 2005/387/JI DES RATES vom 10. Mai 2005 betreffend den Informationsaustausch, die Risikobewertung und die Kontrolle bei neuen psychoaktiven Substanzen, http://eurlex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:3 2005D0387:DE:HTML
Werse, B. / Morgenstern, C. (2011): Abschlussbericht – Online-Befragung zum Thema „Legal Highs“. Im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit. Frankfurt a.M.: Goethe-Universität, Centre for Drug Research Werse, B. / Müller, O. (2009): Pilotstudie: Spice, Smoke, Sence & Co. Cannabinoidhaltige Räuchermischungen: Konsum und Konsummotivation vor dem Hintergrund sich wandelnder Gesetzgebung. Unter Mitarbeit von Christiane Bernard. Frankfurt a.M.: Goethe-Universität, Centre for Drug Research.

Schulische Sucht-Prävention? Ein – leider – grundsätzlich verfehlter Ansatz

C I Schwerpunkte der Drogen und Suchtpolitik
C 1 Prävention

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Stephan Quensel Schulische Sucht-Prävention? Ein – leider – grundsätzlich verfehlter Ansatz 38

1. Als vornehmlich gegen Jugendliche gerichtetes Kontrollinstrument kombiniert die Suchtprävention drei scheinbar höchst plausible Kontroll-Strategien:

Zunächst (1) das aus der US-amerikanischen Mental-Health-Bewegung des 19. Jahrhunderts stammende, auf die Alkohol-‚Sucht‘ bezogene psychiatrische Sucht-Konzept. Sodann (2) die seit Beginn des 20. Jahrhunderts anlaufende juristisch-strafrechtliche Bekämpfung illegaler Drogen. Und schließlich (3) den vor allem von der Sozialarbeit als neuem Tätigkeitsfeld willig aufgenommenen Präventions-Gedanken, der den beiden aufeinander aufbauenden Maximen folgt: ‚Heilen ist besser als Strafen‘ und ‚Vorbeugen ist besser als Heilen‘.

1.1 Dabei erwies sich vor allem das SuchtKonzept als psychiatrisch-therapeutische Mehrzweck-Waffe in mehrfachem Sinne: Zunächst ist es im Common Sense ebenso verankert wie in der Gesundheitspolitik der WHO (World Health Organization). Man versucht die Sucht psychiatrisch exakt in deren ICD-10 oder im US-amerikanischen DSM IV und jüngst im DSM V stufenweise zu definieren und dann auch skalenmäßig zu erfassen. Die Sucht beherrscht den hilflos Süchtigen, exkulpiert ihn aber nicht; sie lässt sich therapieren, selbst wenn sie im Gehirn verankert sein soll; und sie droht demjenigen als nahezu unausweichliches Schicksal, der sich zum – präventiv relevanten – Beginn auf eine schiefe Bahn begibt, oder der später, nach Genuss einer einzigen Cognac-Bohne, rettungslos rückfällig werden wird.

Doch ist diese ‚Sucht‘ nichts anderes als ein – negativ als krankhaft eingefärbtes – Etikett, das bestimmte, zumeist ‚ gesellschaftlich‘ unerwünschte Verhaltensweisen mit einem zugleich entschuldigenden wie vorwurfsvollen Stempel belegt. Dessen ‚Realität‘ nicht nur autoritativ vom dazu zuständigen SuchtExperten diagnostisch festgelegt, sondern das dann auch entsprechend ambivalent vom ‚Süchtigen‘ übernommen und damit sichtbar bestätigt wird.

1.2 Auch die Anti-Drogen-Strategie, die seit der Haager Konferenz (1912: ‚International Opium Convention’) vor allem von den USAmerikanern vorangetrieben wird, reicht vom Common Sense besorgter Erwachsener und entsprechend interessierter Politiker über die Arbeit der Europäischen Beobachtungsstelle (EMCDDA/EBDD), die jährlich einen Drogenbericht publiziert, und die 2011 nach langer Beratung die ‚European Drug Prevention Quality Standards’ publiziert hat, bis in die luftigen Höhen des UNODC (United Nations Office on Drugs and Crime), das den World Drug Report sowie die International Standards of Druguse Prevention (IntStand 2013) herausgibt, und des Internationalen Narcotic Control Boards (INCB), der sich dezidiert gegen die diversen Versuche, Cannabis zu legalisieren wendet, oder die UN-Generalversammlung (UNGASS), die 1998 einen großartigen ‚Action Plan on International Cooperation on the Eradication of Illicit Drug Crops’ bis 2008 beschloss, der jedoch 2013 auf einer Evaluations-Konferenz in Wien, wie zu erwarten, kaum die erwünschten Erfolge aufweisen konnte. 1.3 Die Suchtprävention lebt von diesen beiden Konstruktionen, der Suchtund der Drogen-Gefahr, wobei sie, wie jede Prävention, drei Prämissen folgt:
(1) Sie muss, logisch, vor der zu verhütenden Gefahr einsetzen, und zwar umso früher, je tiefer ihre Wurzeln in die Vergangenheit reichen, weshalb man mitunter auf den Kindergarten oder auf die Beratung von ‚Problem-Müttern‘ durch geschulte Familienhebammen zurückgreifen will (‚prenatal and infancy visitation’). Dabei nimmt man „stärker als in der Vergangenheit nicht nur die Abhängigkeit in den Blick, sondern auch riskantes Konsumverhalten, das gesundheitsschädlich und entwicklungseinschränkend ist, auch wenn es nicht zwingend zu einer Abhängigkeit führt“. (DBDD 2012, S. 9).
(2) Diese Prävention soll zudem möglichst ‚umfassend‘ angelegt werden. Und zwar sowohl hinsichtlich der zu erfassenden Personen, zumal dann, wenn man die künftig Gefährdeten nicht zureichend prognostizieren kann, oder wenn man bei entsprechend ‚sekundär präventiver‘, ‚indizierter’ Auslese deren frühzeitige Stigmatisierung befürchten muss. ‚Umfassend‘ aber auch hinsichtlich der empirisch erhobenen – korrelativen, also nicht kausalen – Fülle möglicher ‚Risiko-Faktoren‘. Weswegen man nicht nur auf verallgemeinernde ‚Kompetenz-Trainings‘ zurückgreift, sondern möglichst auch Lehrer, Eltern und die ganze Gemeinde (‚Community-based multi-component initiatives’) in solche Präventions-Kampagnen einbezieht. Eine Frage also der Ausdauer, des verfügbaren Personals und der Kosten, die der Suchtprävention ein nahezu unbegrenzbares Tätigkeitsfeld eröffnet.
(3) Schließlich muss man eine künftig als möglich angesehene Gefahr schon heute realiter bekämpfen. Sei es ganz direkt dadurch, dass man die gefährdenden Böcke von den gefährdeten Schafen trennt, also den ertappten Cannabis-Sünder von der Schule weist, oder indem man diejenigen Schulklassen, in denen mehr als 10 Prozent schon einmal geraucht haben, aus dem ‚Be-smartdon‘t-start‘Programm ausschließt. Oder sei es dadurch, dass man im angepriesenen Kompetenz-Training übt ‚nein zu sagen‘, auch wenn solche unschuldigen Novizen auf diese Weise ihre sozialen Kontakte völlig verlieren. Geradezu paradox wirkt sich diese Strategie dann aus, wenn man es vermeidet, über einen angemessenen Umgang mit der Droge aufzuklären. Weil Novizen dann mühsam und gefahrenträchtig ihren, von diversen erwachsenen und jugendlichen Mythen gepflasterten eigenen Weg finden müssen. Obwohl, wie unsere Untersuchung zeigte, zwar die NochAbstinenten glaubten, schon alles über die Abhängigkeit zu wissen, während die Konsumierenden dagegen sich, selbst von der Schule, weitere Drogen-Informationen wünschten.

Eine paradoxe Situation, die etwa dazu führt, dass auf privaten Abiturfeiern die Unerfahrenen die Alkohol-Opfer stellen, die zum Glück von ihren kompetenteren Freunden inzwischen verstärkt dem ärztlichen Notdienst überantwortet werden; womit man steigende Krankenhaus-Zahlen ebenso belegen kann, wie die Sorge, dass das Koma-Saufen immer mehr auch die jüngeren und ‚besseren Kreise‘ erfasse. Um nun mit einem besonders gelobten Programm – HaLT (Hart am LimiT), das inzwischen bundesweit umgesetzt wurde – u.a. diese Sünder gleich am Krankenbett in ‚ihrer kritischen Phase‘ – wieder in gleicher Weise Gefahren-orientiert – zu bearbeiten. Anstatt darauf zu setzen, dass viele dieser Jugendlichen aus Scham über ihr ‚AlkoholVersagen’ in Zukunft etwas ‚vernünftiger’ Alkohol konsumieren werden; was sich sogar, mangels zureichender Kontrollgruppen, evaluativ als Programm-Erfolg verkaufen ließe.

2. Das Geschäft der Suchtprävention hat sich inzwischen, einmal mehr unter der Führung des ‚puritanischen’ US-Amerika, zu einer regelrechten Präventions-Industrie ausgewachsen. Ähnlich wie in der Sucht-Therapie, und häufig Hand in Hand mit ihr, gelang es, gestützt auf das US-amerikanische Vorbild, staatlich gefördert und dotiert, die ursprünglich laienhaft naiven Ansätze in größerem Maßstab zu professionalisieren, zu ‚evaluieren’, zu beforschen und zu vermarkten: So verwertet und empfiehlt etwa das IFT München (Institut für Therapieforschung) vorwiegend die US-amerikanische DrogenLiteratur, während das namensgleiche norddeutsche IFT Nord (Institut für Therapie und Gesundheitsforschung) aus Kiel seit 1997 das u.a. von der BZgA, der AOK und der Deutschen Krebshilfe geförderte ‚Be-SmartDon‘t-Start‘-Programm realisiert.

Inzwischen hat diese ‚Präventions-Industrie’ ein erstaunlich hohes, sich selbst stabilisierendes Maß an Professionalisierung erreicht. Eine Professionalisierung, die sich einerseits mit einem hohen quasi-wissenschaftlichem Anspruch ‚institutionell’, nach außen abschotten kann, wie dies etwa im vom BZgA betriebenen ‚Dot.sys. 3.0’, einer Sammlung einschlägiger Suchtpräventions-Programme, und im ‚Prevnet’ mit 900 Einrichtungen und rund 1.400 Mitgliedern – „der größten OnlinePlattform für die Fachexperten der Suchtvorbeugung“ – zu beobachten ist, in der man nur als überprüfter ‚Fachexperte’ Mitglied werden kann.
Und die sich andererseits als Profession weithin selber positiv ‚evaluiert’, so sehr freilich von neutraler Hand betriebene Evaluationen eher keine, wenn nicht sogar negative (iatrogene) Erfolge zu Tage fördern. Weswegen man in betriebseigenen Evaluationen alle legitimen methodischen und statistischen Tricks einsetzt – indem man etwa die Zahl der befragten Probanden oder der überprüften Befunde so hoch ansetzt, dass sich Signifikanzen kaum vermeiden lassen, während die praktische Relevanz gegen Null tendiert; oder sich dazu verführen lässt, die Auswertung so anzusetzen, dass der normale – politische oder finanzierende – Empfänger den dahinter liegenden bewussten oder so nicht bedachten Betrug kaum durchschauen kann. 39
Man kann aber auch, wie etwa der Drogenund Suchtbericht der Bundes-Drogenbeauftragten (2009), die von der renommierten Firma Prognos bestätigte korrekte Durchführung des HaLT-Programms (‚ProzessEvaluation’) als ‚evaluative Bestätigung’ werten, obwohl dies, ähnlich dem Prüfbericht über eine richtig aufgebaute Anlage für AutoCrash-Tests, zwar eine notwendige, doch keineswegs eine hinreichende Aussage über das erwartete Ergebnis liefert.

3. ‚Objekt‘, nicht jedoch Subjekt, dieser Suchtprävention sind – mit gewisser altersmäßiger Variation – üblicherweise Jugendliche, die die Schule besuchen, da man sie hier am besten erreichen kann. Als noch ‚unmündig‘ begriffen, unverständig und schutzbedürftig ‚leben‘ sie jedoch in ihrer eigenen, von den ‚Erwachsenen‘ wenig verstandenen Welt, in der sie sich behaupten müssen, ‚heute‘ ihren Lebens-Sinn finden und das ‚Morgen‘ einüben sollen. In einer eigenständigen Lebensweise, in einer – mannigfach gebrochenen – ‚Jugendkultur‘, in der sie sich im Peergruppen-Kontext – und zwar vor allem auch im Party-Kontakt mit dem anderen Geschlecht – bewegen und bewähren müssen. Ein Kontext, der zum Leidwesen der Erwachsenen weniger schuldenn freizeitbezogen ausfällt, und in dem ‚harte‘ jugendkulturelle Sitten und sich mitunter rasch wandelnde Moden dominieren, die heute, im Zeitalter der Internet-Kommunikation, stärker das Auf und Ab von Drogen-Wellen bestimmen als jede erfolgreiche Prävention. Mit einem Musik-, Sprach-, Kleidungs- und Körper-Stil, dem man folgen sollte, sofern man die für die Identität notwendige Anerkennung der anderen Jugendlichen, doch nicht unbedingt die der Erwachsenen, gewinnen will. Stil-Figuren, mit denen man sich – zumindest partiell – ‚von den anderen‘, also von den ‚Braven’ und insbesondere von der Lebensweise der Erwachsenen abheben will, wenn dies auch heute in manchen Bereichen schwerer fällt als in früheren Zeiten.

Zu diesem Jugend-Stil gehören auch einige, von den Erwachsenen als ‚abweichend‘ definierte Verhaltensweisen, wie etwa der jugendlich laute Alkohol-Konsum und das ‚verfrühte’ Rauchen; bei den Jungen die kleinere Delinquenz und manche ‚Gewalt’; bei den Mädchen noch immer das ‚risky sexual behaviour’ und der bisher präventiv noch wenig beachtete Konsum von Tabletten aller Art; und schließlich für beide der besonders eng mit dem Musik-Stil verbundene, Modeabhängige Konsum so genannter ‚Legal Highs’ oder ‚Party-Drogen‘, die man so nicht nennen soll, da dies das Problem verharmlosen würde.
Zusammengenommen bilden diese Verhaltensweisen – mit jeweils variierenden Schwerpunkten – einen über die europäischen Grenzen hinweg reichenden, für Jungen wie Mädchen gemeinsamen, positiv besetzten jugendlichen Freizeitstil, an dem nicht nur gemessen wird, wer und was ‚in‘ und wer ‚out‘ ist, sondern der zugleich auch die zukunftsträchtige Möglichkeit bietet, sich eigenständig zu bewähren. Mit zwei unerwünschten Konsequenzen:

3.1 Wer sich diesem Stil verweigert, riskiert, sofern er/sie nicht anderweitig, insbesondere in anderen Gruppen-Kontexten abgesichert ist – wie z.B. in manchen präventiv immer wieder empfohlenen, doch häufig dem Alkohol geneigten Sportarten – sozial isoliert zu werden. Mit zwei typischen weiteren Folgen: Häufig versuchen jüngere Novizen, unerfahren und noch ohne den schützenden Gruppen-Kontext – durch selbst auferlegte und von außen geförderte ‚Mutproben‘ – in solchen verpönten, jugend-kulturell jeweils vorgeformten Verhaltensbereichen Anerkennung und damit Aufnahme in die Gruppe zu erwerben. Koma-Saufen-Unfälle liegen dann ebenso nahe, wie ‚Horror‘-Erfahrungen im weiteren Party-Drogen-Bereich; die übrigens umso seltener auftreten, je erfahrener die Konsumenten insgesamt mit diesen Drogen umgehen können.
Misslingen solche Anbiederungsversuche, liegt es nahe – was in unserer Untersuchung deutlich sichtbar wurde –, die in diesem Alter besonders intensiv erlebte soziale Isolation depressiv zu verarbeiten, wofür als Beispiel das ‚einsam heimliche Trinken‘ späterer Altersstufen stehen mag.

3.2 Schulprobleme treten auch ohne den begleitenden Drogen-Konsum auf; während um50    gekehrt, im Präventions-Denken unerwartet, viele Schüler selbst mit einem intensiveren ‚normalen‘ Drogen-Konsum kompetent umgehen können, ohne solche Schulprobleme zu haben. Wenn beide ‚Probleme‘, Schulversagen wie Drogenkonsum, zusammentreffen, bleibt offen, welcher dieser beiden Bereiche vorrangig ist, da sie sich im Laufe eines längeren Prozesses gegenseitig hochschaukeln werden. Dabei ließe sich die schulische Komponente, wenn nicht von Anfang an, so doch im Laufe dieses Prozesses, leichter beheben, als ihre – häufig eher in Reaktion auf dieses Schulversagen kompensierend angelegte – jugendspezifisch gruppenorientierte Drogen-Komponente.
Wir haben also für eine schulspezifische Prävention – neben einer zureichenden und erwünschten ‚realistischen’ Aufklärung, wie sie etwa in www.drugscouts.de angeboten oder im risikopädagogischen Rebound-Proversucht gramm (www.my-rebound.eu) werden soll – mit zwei sich deutlich abzeichnenden Problem-Gruppen zu tun: Eine brave, depressiv eingefärbte Gruppe der mehr oder weniger sozial Isolierten einerseits, und die häufig kompensatorisch Drogen konsumierenden ‚Schulversager‘ andererseits. Während im Normalfall der ‚normale‘ jugendspezifische Drogenkonsum eher soziale Kontakte begünstigt und ohne schulische Folgen bleibt. Beide ‚Problemgruppen‘ sind – ohne großen Aufwand und ohne Drogen-Stigma-Folgen – leicht für entsprechende ‚Fördermaßnahmen‘ zu erkennen.

3.3 Diese jugendspezifische ‚Drogen-Normalität‘ kann nicht nur gegen die befürchteten Süchte ‚immunisieren’, sondern wird sich gewöhnlich von selber ‚auswachsen‘, ohne notwendigen Zusammenhang mit eventuell später auftretenden erwachsenen ‚Sucht -Problemen‘, die doch eine darauf ausgerichtete Sucht-Prävention begründen sollen. Man kennt das aus der Delinquenz-Entwicklung, die mit dem Eintritt in das ErwachsenenAlter zunehmend versiegt, wie aus den üblichen Cannabis-Verläufen – zumal der Konsum von Cannabis, entgegen dem propagandistischen Fehlschluss, bei den Junkies eher als Ausstiegsdenn als Einstiegs-Droge  wirksam wird – weil sie mit dem Auslaufen der Zugehörigkeit zur Jugendkultur an Reiz verlieren, sofern sie nicht ganz normal in eine erwachsene ‚work-hard-live-easy‘-Kultur als Entspannungsmittel eingebaut werden.

4. So sehr die derzeit übliche Suchtprävention weitgehend ohne evaluativ nachweisbare dauerhafte Erfolge agiert, so kann sie doch das ursprünglich definierte ‚Drogen-Problem‘ in doppelter Weise weiter verschärfen:

4.1 Bei den noch ‚Braven’ wächst das Risiko der sozialen Isolation. Den ‚Gefährdeten’ bietet sie einen Schul-‚Status’, der kompensatorisch die Schulproblematik vertiefen kann. Leicht führt dies zu einer frühzeitigen Stigmatisierung. Sei es, weil eine Mehrzahl ängstlich-intoleranter Schüler, Eltern oder aufgeschreckter Lehrer den präventiv angeratenen Ausschluss solcher Sündenböcke realisieren. Oder sei es, dass sekundär bzw. ‚indiziert’ präventiv gezielt darauf angesetzte Maßnahmen dieses ‚Gefahren‘-Merkmal, aus seinem jugendkulturellen Hintergrund herausgelöst, zum Master-Status-Merkmal erklären. In beiden Fällen, Isolation wie ‚Gefährdung‘, schürt die gegenwärtige Suchtprävention ebenso Intoleranz und unsolidarische Ausgrenzung wie sucht-spezifische Ängste und Erklärungsmuster, anstatt zureichend über die konkreten Gefahren in der Art und Weise des Drogen-Konsums und über brauchbare Nothilfen (!) im Rahmen eines ‚Erste-HilfeKurses’ aufzuklären.

4.2 Problematischer sind die indirekten Auswirkungen dieser Suchtprävention auf die Eltern der Schüler, insbesondere, wenn sie dieser altersspezifischen ‚Jugendkultur und deren Freizeitverhalten eher fremd gegenüberstehen. Die ihnen professionell und pseudowissenschaftlich vermittelten Informationen fördern, wenn sie wie üblich den allgemeinen Common-Sense-Befürchtungen entsprechen, solche mit Angst besetzte Abhängigkeits-Stereotypen, die nach unserer Untersuchung mit zunehmenden Alter und abnehmendem Bildungsstand immer ausgeprägter auftreten. Und zwar immer dann, wenn man, durch eine solche Aufklärung verunsichert,   weniger auf die isoliert Braven, denn auf die Drogen-Sündenböcke achtet. Oder wenn man in erweiterten Präventions-Programmen – wie etwa in der nach US-amerikanischen Vorbildern entwickelten und gepriesenen MDFT (Multidimensionale Familientherapie) 40 – mit eben dieser stereotypen ‚Suchtpräventions’Perspektive nunmehr auch noch „familiäre und institutionelle Bezugspersonen“ (Lehrer, Sozialarbeiter, Polizisten?) unmittelbar in eine solche Präventionsarbeit einbeziehen will.

Wobei die meisten dieser merkantilen Suchtpräventions-Programme mit ihren typischen Mittelschicht-Werten auf Jugendliche aus eben dieser sozialen Schicht ausgerichtet sind, während etwa, wie im ‚Be-Smart-Don‘tStart‘-Programm, Hauptschüler und andere Migranten nur schlecht erreicht werden. Ebenso, wie man solche MittelschichtJugendliche eher in den neuartigen CannabisTherapie-Angeboten – etwa im internationalen INCANT-Projekt (International Cannabis Need of Treatment) des Berliner Therapieladens – wieder findet. Während man den anderen in den – von der renommierten Beratungsfirma FOGS lediglich im Hinblick auf die Durchführung Prozess-evaluierten – polizeilich geleiteten FreD-Programmen (Frühintervention bei erstauffälligen Drogenkonsumenten) für ertappte Cannabis-Konsumenten begegnen wird.

Wie so oft bei solchen sogenannten ‚sozialen Problemen’ erweist es sich auch bei der ‚Sucht’-Prävention, dass zweifellos gegebene riskante und gelegentlich auch problematische Situationen dann, wenn sie in die Hände von organisierten und politischen Interessenten geraten, leider ein unerwünschtes Eigenleben entwickeln, in dem diese Akteure – häufig, jedoch keineswegs immer, mit bestem Wollen – das ‚Problem’ vorantreiben, wenn nicht gar selber produzieren werden.

38  Der Beitrag ist eine gekürzte Fassung meines Artikels ‚Schulische Suchtprävention. Zur Pathologisierung von Jugendlichen.’ In: Marcus Balzereit, Roland Anhorn (Hrsg) (2014): Handbuch Therapeutisierung und Soziale Arbeit. (im Druck). Dort findet man auch einen weiterführenden Anmerkungsapparat. Bei meinen Ausführungen stütze ich mich auf meine beiden Bücher ‚Das Elend der Suchtprävention’ und ‚Wer raucht der stiehlt… Zur Interpretation quantitativer Daten in der Jugendsoziologie’ (Quensel 2009 & 2010), in denen ich die hier angeschnittenen Fragen zunächst eher ‚theoretisch’, dann stärker ‚empirisch’ an Hand einer Umfrage unter 4.000 15-Jährigen aus 5 europäischen Großstädten analysiert habe

39  vgl. meine Kritik an der ‚Be-Smart-Don’t-Start’ Evaluation in Quensel 2007.

40  „Mit der MDFT liegt ein evidenzbasierter, integrativer Behandlungsansatz vor, bei dem bestehende familiäre und institutionelle Bezugspersonen einbezogen werden, um ihre erzieherische, beraterische und betreuende Kompetenz zu optimieren. Um zu helfen, ‚Drogenkarrieren’ der benachteiligten Jugendlichen zu verhindern, soll die MDFT bundesweit bekannt gemacht und umgesetzt werden. Zu diesem Zweck fördert das BMG seit Herbst 2012 die Qualifizierung von Fachkräften aus Einrichtungen der Jugendund Suchthilfe zu MDFT-Fachkräften bzw. MDFT-Supervisoren.“ (Drogenbeauftragte 2013, S. 144)

Literatur
DBDD (2012): Bericht 2012 des nationalen REITOX-Knotenpunkts an die EBDD; (www.dbdd.de › Publikationen )
Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung (2009): Drogenund Suchtbericht 2009. Berlin: Bundes-ministerium für Gesundheit.
Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung (2013): Drogenund Suchtbericht 2013. Berlin: Bundes-ministerium für Gesundheit.
Quensel, S. (2007): Staatsforschung: Wie „Be Smart-Don’t-Start“ sich selber evaluiert. In: Kriminologisches Journal 39, 1, S. 68-79.
Quensel, S. (2009): Wer raucht, der stiehlt…: Zur Interpretation quantitativer Daten in der Jugendsoziologie. Eine jugendkriminologische Studie. Wiesbaden: VS.
Quensel, S. (2010): Das Elend der Suchtprävention: Analyse Kritik – Alternative. 2. Aufl. Wiesbaden: VS. 52