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Medikamentenpolitik – Defizite in der Epidemiologie

B 3 Medikamente

Gerd Glaeske

Medikamentenpolitik – Defizite in der Epidemiologie

Noch immer muss davon ausgegangen werden, dass rund 1,2 Millionen Menschen von Benzodiazepinderivaten oder Benzodiazepinrezeptoragonisten (Z-Drugs) abhängig sind, weitere etwa 300 400.000 von anderen Arzneimitteln, vor allem stark wirksame Schmerzmittel, insgesamt also rund 1,5 Millionen Menschen. Einige Autoren schätzen die Zahl sogar auf 1,9 Millionen ein (Soyka et al. 2005). Damit ist die Medikamentenabhängigkeit das zweitgrößte Suchtproblem in Deutschland – nach der Tabakabhängigkeit, aber noch vor der Alkoholabhängigkeit. Diese Unterschiede bei den Angaben zur Medikamentenabhängigkeit sind darauf zurückzuführen, dass die Schätzungen auf Basis der verfügbaren Verordnungsdaten der Gesetzlichen Krankenkassen (GKV) zustande kommen, die zwar Verläufe für einzelne Personen nachzeichnen und die verordneten Mengen im Zeitintervall darstellen können (z.B. ist davon auszugehen, dass Personen, die 3-4 Monate solche Benzodiazepin-haltigen Mittel ohne Unterbrechung einnehmen, eine Abhängigkeit entwickeln dürften
(Madhusoodanan/ Bogunovic 2004; Mort/ Aparasu 2002)), dass mit diesen GKVVerordnungsdaten die wirkliche Anzahl von Abhängigen aber nicht mehr valide dargestellt werden kann (Schwabe/ Paffrath 2013).

Verordnungen auf Privatrezept
Immer häufiger werden abhängigkeitsinduzierende Schlafmittel und Tranquilizer auch für GKV-Versicherte auf Privatrezepten verordnet, da Ärztinnen und Ärzte auf diese Weise der Verordnungstransparenz bei den Kassen und möglichen Auffälligkeitsprüfungen durch die Kassenärztlichen Vereinigungen entgehen können – das Verordnungsgeschehen ist über die Daten z.B. des jährlich erscheinende Arzneimittelreports nicht mehr transparent zu machen (Hoffmann et al. 2006; Hoffmann et 14    al. 2009; Hoffmann et al. 2010; Hoffmann/ Glaeske 2014)). Empirische Studien sind daher aus gesundheitspolitischer und aus Public-Health-Sicht dringend erforderlich, um eine bessere Kenntnis von der Epidemiologie der Arzneimittelabhängigkeit zu erlangen – die Versorgungsforschung, die nach den Aussagen des aktuellen Koalitionsvertrags gefördert werden soll, könnte in diesem Zusammenhang von besonderem Nutzen sein und müsste GKV-Rezepte und Privatverordnungen einbeziehen. Dennoch geben die Daten der Krankenkassen Hinweise darauf, wer denn in welcher Häufigkeit solche abhängig machenden Arzneimittel verordnet bekommt. Die Auswertungen der BARMER GEK-Daten zeigen bei den Langzeitverordnungen, dass der Anteil von abhängigen Frauen im höheren Lebensalter deutlich höher liegt als bei den Männern und bis zu 8% bei den Frauen über 70 Jahre reicht (Glaeske/ Schicktanz 2011). Für eine Dauertherapie mit Benzodiazepinhaltigen Mitteln gibt es jedoch keine entsprechende Evidenz. Die vorhandenen Studien untersuchen ausschließlich die Wirksamkeit von Benzodiazepinen in der Kurzzeitbehandlung. Therapiestudien mit einer Behandlungsdauer von über 4-5 Wochen existieren praktisch nicht (Holbrook et al. 2000; Madhusoodanan/ Bogunovic 2004; Nowell et al. 1997; Smith et al. 2002). Daraus ergeben sich wichtige Implikationen für eine rationale Arzneimitteltherapie. Der Langzeitgebrauch von Benzodiazepinen, aber auch von Benzodiazepinagonisten wie Zolpidem oder Zopiclon ist daher unangebracht, insbesondere bei älteren Menschen. Gerade bei Menschen im höheren Alter sind aber Besonderheiten zu beachten – verlängerte Wirkdauer und Wechselwirkungen (vgl. Madhusoodanan/ Bogunovic 2004; Mort/ Aparasu 2002). Aber auch kurzwirksame Benzodiazepine in höherer Dosierung sollen vermieden werden (siehe vergleichende Übersicht in Holt et al. 2010). Gegen die schlaffördernde Wirkung entwickelt sich rasch eine Toleranz; was weiterhin verbleibt, ist allenfalls die angstlösende Wirkung (Wolter-Henseler, 1999). Eine solche Abhängigkeit findet zumeist als ‚low-dose-dependency‘ statt, als eine Abhängigkeit, die nicht notwendigerweise mit einer Dosiserhöhung einhergeht. Dies wurde auch in einer amerikanischen Studie bestätigt. Von 2.440 Patienten, die Dauernutzer von Benzodiazepinen waren, lag die Rate der Dosiserhöhung bei lediglich 1,6%. Ältere Personen waren davon geringer betroffen (Soumerai et al. 2003).

Hypnotika und Tranquilizer: Noch immer das größte Problem
Als Hypnotika kommen Benzodiazepine und die neueren Benzodiazepinrezeptoragonisten zum Einsatz. Die Abgrenzung in Hypnotika und Sedativa/Tranquilizer (z.B. Temazepam, Lormetazepam, Flunitrazepam) bzw. Tranquillantien (z.B. Bromazepam, Lorazepam, Diazepam) ist oft eher willkürlich und beruht wahrscheinlich weitgehend auf Marketingaspekten. Grundsätzlich wirken alle Benzodiazepine angstlösend, sedativ, muskelrelaxierend und antikonvulsiv, wobei sich die einzelnen Wirkstoffe in ihren Ausprägungen unterscheiden. Die Benzodiazepinrezeptoragonisten Zolpidem und Zopiclon (Zaleplon gehört auch in diese Gruppe, spielt aber kaum noch eine Rolle), die aufgrund ihrer gleichen Anfangsbuchstaben auch oft als „Z-Drugs“ bezeichnet werden, sind hingegen ausschließlich bei Schlafstörungen (und für die Kurzzeitbehandlung) zugelassen. Eine im Jahr 2005 im renommierten British Medical Journal erschienene Meta-Analyse untersuchte speziell den Nutzen und Schaden von Hypnotika bei älteren Menschen (60+ Jahre).
Eingeschlossen wurden 24 Studien mit 2.417 Teilnehmern, die vorwiegend Benzodiazepine und Z-Drugs erhielten (Glass et al. 2005, Wagner et al. 2004). Der Gebrauch dieser Substanzen bei Älteren brachte im Vergleich zu Placebo zwar statistisch signifikante Vorteile, die erzielten Effekte fielen allerdings nur gering aus. Die Autoren kamen zu der Schlussfolgerung, dass die geringe Wirksamkeit dieser Mittel bei Älteren das erhöhte Risiko unerwünschter Ereignisse möglicherweise nicht rechtfertigt. In den eingeschlossenen Studien wurden als unerwünschte Wirkungen u.a. Gedächtnisschwächen, Desorientiertheit, Schwindel, Verlust des Gleichgewichts und Stürze untersucht. Missbrauch   und Abhängigkeit, die sowohl für die Langzeitanwendung von Benzodiazepinen wie auch Z-Drugs beschrieben sind (DG-Sucht & DGPPN, 2006), wurden in dieser Studie also noch nicht einmal auf die „Schadenseite“ hinzugerechnet. Darüber hinaus wurde in letzter Zeit zunehmend Evidenz dafür publiziert, dass auch bei älteren Menschen nichtpharmakologische Therapiemaßnahmen im Vergleich zur medikamentösen Behandlung zu einem dauerhafteren Therapieerfolg führen (Sivertsen/ Nordhus 2007; Sivertsen et al. 2006).

Vorliegende Daten unterschätzen das Abhängigkeitsproblem
Um das Risiko von Missbrauch und Abhängigkeit zu minimieren, empfehlen nationale wie internationale Leitlinien, Benzodiazepine und Z-Drugs in der möglichst niedrigsten Dosis und maximal über 4 Wochen einzusetzen (DGN 2008; NICE 2004). Für ältere Menschen wird sogar empfohlen, dass eine Behandlung mit Hypnotika eine Dauer von 10 Tagen allgemein nicht überschreiten sollte. Die aktuelle Versorgungssituation liefert jedoch ein anderes Bild. Viele Studien konnten zeigen, dass diese Mittel häufig über einen deutlich längeren Zeitraum eingesetzt werden.

Wegen dieser Altersverteilung ist es im Übrigen schwer nachvollziehbar, dass in den epidemiologischen Untersuchungen zum Substanzkonsum und zu substanzbezogenen Störungen (Pabst et al. 2013) im Rahmen des Suchtsurveys des Instituts für Therapieforschung (IFT) nur Personen im Alter zwischen 18 und 64 Jahren befragt werden. Und im Ergebnis kommt es dann z.B. bei Schlafmitteln zu einem problematischen Gebrauch bei 0,7% oder bei Beruhigungsmitteln von 1,0%. Die Daten unterschätzen das Problem, weil der Hauptanteil, wie hier dargestellt, erst bei Personen im Alter von über 65 Jahren beginnt – die öffentlich geförderte Untersuchung zur Erfassung des problematischen Medikamentenkonsums sollte daher dringend im Hinblick auf das Alter den „wahren“ Konsumgewohnheiten angepasst werden, damit in der gesundheitspolitischen Diskussion endlich eine realistische Darstellung von Konsummustern verfügbar ist. Wenn dieses Problem der älteren Menschen und ihrer dauerhaften Einnahme von Arzneimitteln nicht zum Thema von Forschungsvorhaben gemacht wird, könnte zumindest der Eindruck entstehen, dass sich bei diesen Menschen eine Intervention nicht mehr lohnt. Dabei sind es gerade die älteren Patientinnen und Patienten, die unter den Auswirkungen von zu vielen Arzneimitteln nebeneinander leiden: Insbesondere im Zusammenhang mit Psychopharmaka verschlechtern sich die kognitiven Fähigkeiten und sozialen Kompetenzen, die Konzentrationsfähigkeit sinkt, es kommt zu Stürzen oder anderen schwerwiegenden Folgeerscheinungen, wie gravierende Wechselwirkungen, die oft genug zu Krankenhauseinweisungen führen – bei immerhin 10,2% der Einweisungen von Menschen über 65 Jahren sind nicht Krankheiten, sondern Nebenwirkungen und Wechselwirkungen der Grund für Krankenhauseinweisungen. Polymedikation und häufige Verordnungen von Beruhigungsund Schlafmitteln sind eine auffällige Begleiterscheinung des demographischen Wandels hin zu einer älter werdenden Gesellschaft. Diese Aspekte in der arzneimittelepidemiologischen Forschung unberücksichtigt zu lassen, spricht nicht gerade für eine reflektierte Medikamentenpolitik, die sich vom Ziel der Therapiesicherheit und Patientenorientierung leiten lässt.

Abbildung 1: Anteil ältere Menschen mit Verordnungen von Hypnotika nach Alter und Geschlecht (Glaeske et al. 2010)

Literatur
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