Archiv des Autors: drogenbeauftragter

Cannabis als Medizin – Probleme und Handlungsbedarf aus Patientensicht

Von Axel Junker

Die Bundesregierungen der vergangenen Legislaturperioden hatten und haben kein Interesse am Thema Cannabis als Medizin, geschweige denn am Leiden der Betroffenen.
„Schwarz-Gelb gibt grünes Licht für CannabisArzneien“ hieß es 2010 anlässlich der 25. BtMÄndVo, welche die Zulassung von Fertigarzneimitteln auf Cannabisbasis ermöglichte. Diese Änderung ist und bleibt bis heute eine bloße „Lex Sativex“, die aktuell ausschließlich ein Medikament bei lediglich einer Indikation marktfähig gemacht hat. Diese Mini-Änderung der Gesetzgebung wurde im Drogenund Suchtbericht 2011 noch gefeiert. Im Bericht 2012 herrscht seither wieder Schweigen – obwohl FDP und SPD bei der Anhörung im Bundestag einen Handlungsbedarf erkannten. Cannabisblüten als Medizin sind weiterhin nur für einen Bruchteil der Patienten erhältlich. So übersteigt der Anteil der registrierten Erlaubnis-Inhaber an der Gesamtbevölkerung in Ländern wie Kanada oder Israel den für Deutschland um ein Vielfaches (siehe Grotenhermen in diesem Band).
Aus Sicht der Betroffenen sind folgende Punkte dringend notwendig, um die Achtung der Menschenrechte und die gesundheitlichen Interessen von Cannabis nutzenden Patienten sicherzustellen.

1. Lockerung der Kriterien für eine Cannabis-Ausnahmeerlaubnis
Die Hürden für eine Erlaubnis durch die Bundesopiumstelle zum Erwerb von Cannabis sind weiterhin enorm hoch.
Einer der häufigsten Ablehnungsgründe ist eine (fern-)diagnostische Prognose (respektive eine prognostische Diagnose) „möglicher Cannabis-Abhängigkeit“, die von mitunter eigenartig fachfremden Ärzten beim Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) erstellt wird. Ausnahmeerlaubnis-Anträge je doch negativ zu bescheiden, nur weil „der starke Wunsch Cannabis zu konsumieren“ besteht, macht bei kranken Menschen, denen Cannabis Linderung verschafft, keinen Sinn.

Ein zweiter häufiger Grund, die Erlaubnis zu versagen, ist der Status des Patienten, so lange dessen Krankheit nicht als „austherapiert“ gilt und es noch Pharmaprodukte gibt, die der zu behandelnde Kranke bislang nicht probiert hat, und die von ihm deshalb wochenoder monatelang mit allen ggf. auftretenden Nebenwirkungen regelrecht „getestet“ werden müssen.
Diese Forderung als Antragsvoraussetzung namens des BfArM macht Patienten zwangsweise zu „Medikamente-Versuchskarnickeln“. Sie müssen daher nicht selten eine Vielzahl pharmakologischer Produkte mit teilweise erheblichen Nebenwirkungen – und wiederum Medikamente gegen diese Nebenwirkungen – einnehmen, obwohl oft schon bekannt – aber ggf. nicht dokumentiert – ist, dass viele dieser Mittel nicht ausreichend wirken und/oder zu viele zu starke unerwünschte und gesundheitsschädigende Effekte zeigen.
In den meisten dieser Fälle weiß der Patient allerdings schon geraume Zeit vor Antragstellung, dass Cannabis ihm die erwünschte Linderung verschafft. Einen Antrag zu stellen, der medizinisch nicht gerechtfertigt wäre und nur den Genussgründen des Antragstellers dienen sollte, ist schon allein wegen des großen finanziellen Mehr-Aufwands auszuschließen. Insoweit kann davon ausgegangen werden, dass Anträge auf eine Ausnahmeerlaubnis in aller Regel gesundheitliche Ursachen haben.

Es sollte demnach vollkommen ausreichend sein, wenn ein Arzt feststellt, dass der Einsatz von Cannabis als Medizin beim Erkrankten sinnvoll erscheint, zumal es bei Patienten mit schweren Erkrankungen (wie beispielsweise Epilepsie) Monate und Jahre dauern kann, bis der Kranke als „austherapiert“ bezeichnet werden kann.

Die Liste schwerer Nebenwirkungen selbst alltäglicher Medikamente wie etwa Diclofenac und Metoclopramid wächst durch neue Erkenntnisse immer weiter. Patienten seitens der klinischen Abteilung beim BfArM auf solche Mittel zu verweisen und deren Einnahme zu propagieren, bevor Cannabis erlaubt werden kann, ist schlichte Nötigung und widerspricht aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen zu derlei bedenklichen Arzneimitteln.

Cannabis darf nicht das allerletzte Mittel der Wahl sein. Im Gegenteil: Es sollte durchaus vorrangig empfohlen werden. Für die Anwendung von Cannabis-Medikamenten sollte ebenso wie bei der Behandlung anderer Krankheiten mit anderen Mitteln für Arzt und Patienten Therapiefreiheit herrschen.

2. Cannabis-Patienten-Residenzpflicht auf den Prüfstand
Für Grenzübertritte innerhalb Europas mit erlaubtem Cannabis werden – anders als etwa in den Niederlanden – keine Genehmigungen vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte erteilt.
Das SCM-Mitglied Liliane Moriello monierte als in Deutschland lebende Dänin bei der EUKommission ihre Residenzpflicht bzw. Reisefreiheits-Beschränkung, die einerseits Folge der Einstufung von Cannabis in die Anlage I des BtMG ist, andererseits auch Folge eines Mangels an Schaffung(swille) entsprechend zeitgemäßer Verwaltungsvorschriften.
Das BfArM hat der mit der Sache befassten Stelle bei der EU-Kommission Kompromissvorschläge zur Lösung des Problems unterbreitet; diese sind aber für die Ausnahmeerlaubnis-Inhaberin Moriello weder praktikabel, noch deuten diese eher hilflos wirkenden Lösungsversuche seitens des BfArM auf tatsächliche Sachoder Fachkenntnisse der Cannabis-Situation in Dänemark hin.
3. Erstattung Dronabinol, Sativex und Cannabisblüten
Dronabinol, Sativex und Cannabisblüten werden von den Gesetzlichen Krankenkassen in aller Regel nicht erstattet bzw. bei Sativex nur bei Spastiken infolge multipler Sklerose. Auch ohne eine Zulassung mit Indikation ist eine Erstattung prinzipiell möglich, sei es als freiwillige Leistung der Krankenkasse oder auf Beschluss des Gemeinsamen Bundes88    ausschuss (G-BA). Der GKV-Spitzenverband stellt allerdings (seit Jahren) keinen entsprechenden Antrag beim Gemeinsamen Bundesausschuss. Fortschreitende soziale Verelendung und gesundheitliche Destabilisierung von Cannabis nutzenden Patienten sind die direkten Folgen dieser Untätigkeit.
Medizinischer Cannabis wird in Apotheken derzeit mit Gramm-Preisen zwischen knapp über 12 und 21 € gehandelt. Für viele, wenn nicht sogar die meisten Kranken, ist damit der Monatsbedarf an Cannabisblüten nur kurzfristig zu decken. Bei einem Konsumbedarf von mehren Gramm täglich ergeben sich schnell Kosten über 1000 Euro pro Monat. Im Falle des Bezugs von Hilfe zum Lebensunterhalt (Hartz IV) ist CannabisMedizin für Erkrankte generell unerschwinglich.
Über die Widersinnigkeit des vorherrschenden Mangels einer Dronabinol-Kostenerstattung gibt Ute Köhlers Schicksal seit vielen Jahren Auskunft. Ihr Fall zeigt die verheerenden gesundheitspolitischen Fehleinschätzungen in Sachen medizinisches Potenzial von Cannabis auf.
Er gibt aber auch Auskunft über die daraus resultierenden unmenschlichen Konsequenzen für Frau Köhler mit ihrem stark Schmerzgeprägten Dasein zwischen Selbstanzeige, Selbstaufgabe und selbstlosem Einsatz für die gerechte Sache MedikamentenkostenErstattung, die 2013 überraschend in die Verleihung der Bundesverdienst-Medaille mündete. Jedoch noch immer nicht zur Erstattung der Kosten für das Dronabinol durch die AOK Thüringen.

4. Private Anbau-Genehmigungen zu medizinischen Zwecken
Ein unkomplizierter Ausweg aus zu hohen Cannabismedizin-Preisen und eine Alternative zu immer wiederkehrenden Lieferausfällen seitens des Cannabis-Importeurs und auch eine Alternative zur eingeschränkten SortenAuswahl (minimale Produktpalette des europäischen Cannabismedizin-Monopolisten Bedrocan) wäre der Eigenanbau von Cannabispflanzen durch Patienten.
BfArM und BMG sind durch zahlreiche Urteile der höchsten Gerichte aktuell im Zugzwang bezüglich der Erteilung von Genehmigungen zum Anbau von Cannabis. Denn…
• Cannabis als Medizin ist zu teuer.
• Cannabis als Medizin ist nicht für jeden Patienten zugänglich.
• Cannabis als Medizin ist zu rar.
• Cannabis als Medizin zieht überdies einen Rattenschwanz an bürokratischem Aufwand mit viel zu hohen Folgekosten für den Kranken nach sich.

All das nicht selten, wenn es „nur“ um Leben und Tod geht.
Ähnlich wie bei der Erteilung von Genehmigungen zur ärztlich begleiteten Selbsttherapie werden im Falle von Erlaubnis-Erteilungen für den privaten Anbau allerdings unverhältnismäßig hohe Sicherheitsanforderungen durch das BfArM gestellt. Diese Anforderungen – so lassen erste Schreiben des Bundesinstituts erahnen – sind maßlos überzogen und lassen die durchschnittliche finanzielle Ausstattung chronisch Kranker unberücksichtigt. Die Argumente für die ablehnende Haltung zum Eigenanbau beispielsweise der Bundesärztekammer sind haltund sinnlos, denn sie ignorieren die Alternative zur nicht-standardisieren Versorgung durch Eigenanbau: Keine Versorgung.

5. Anbau-Genossenschaft nach dem Vorbild Cannabis Social Club zulassen Die europaweite Diskussion über das Modell des Cannabis Social Clubs ist gerade für Patienten interessant. Das starke Bedürfnis nach finanziell erschwinglicher CannabisMedizin-Versorgung sorgt für ersten konstruktiven Meinungs-Austausch zwischen SCM – Mitgliedern in Sachen Gründung einer oder mehrerer solidarischer Anbau-Genossenschaft/en. Für solche Social Clubs mit vorwiegend medizinischem Charakter müssen Anbau-Genehmigungen erteilt werden.
Schlussendlich muss eine juristische Duldung medizinisch begründeter SelbstversorgerMaßnahmen erfolgen; ähnlich wie dies in Belgien bei „Trekt uw Plant“ der Fall ist. Hier sind gemeinsam erarbeitete Bestimmungen des Bundesjustizministeriums unter Heiko   Maas und Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe dringend erforderlich.

6. Sorten-Auswahl – Angebotsvielfalt vergrößern Die rasch voranschreitende Forschung an medizinischen Cannabis-Sorten zur optimalen Versorgung verschiedener Krankheitsbilder hat weltweit zu einer Sortenvielfalt geführt, welche sämtliche medizinisch genau definierten Symptomkomplexe abdecken kann. Die vier in Deutschland vom Produzenten Bedrocan erhältlichen Sorten können entsprechend nur mit Einschränkung wirksam sein. Mit der Zugabe neu entwickelter medizinischer Sorten im Eigenanbau könnte die Versorgung von Patienten daher enorm optimiert werden.
Der Geschäftsführer von Bedrocan B.V. hat in einem Interview auf arte verlautbart, dass es auch in seinem Sinne sei, wenn es künftige weitere Cannabis-Anbieter zur Versorgung des stetig steigenden europäischen Bedarfs gäbe.

Fazit
Die Gesamtsituation Deutschlands in Sachen Versorgung mit Cannabismedizin im Vergleich zu anderen Ländern wie z.B. USA, Kanada, Niederlande, Spanien muss aufgrund vorliegender Erkenntnisse als gesundheitsund rechtspolitisch gewollt desolat und als erschreckendes medizinisches Entwicklungsgebiet zugleich bezeichnet werden – einer fortschrittlichen Nation jedenfalls absolut unwürdig.

Der Stand der medizinischen Versorgung mit Cannabis und Cannabinoiden in Deutschland

Von Franjo Grotenhermen

1. Möglichkeiten der medizinischen Verwendung von Cannabisprodukten in Deutschland
In Deutschland können einige Medikamente auf Cannabisbasis auf einem Betäubungsmittelrezept verschrieben werden. Zudem besteht die Möglichkeit einer Ausnahmegenehmigung zur Verwendung von Cannabisblüten aus der Apotheke.

1.1 Verschreibung von Cannabismedikamenten mittels BTM-Rezept Fertigarzneimittel mit den Wirkstoffen Nabilon (Cesamet®) und Dronabinol (Marinol®) sind in den USA und Großbritannien sowie anderen Ländern im Verkehr und können auf Grundlage des § 73 Abs. 3 Arzneimittelgesetz (AMG) auch in Deutschland rezeptiert werden. Die Kosten für das Fertigarzneimittel Marinol® sind jedoch höher als die für Rezepturarzneimittel, die Dronabinol enthalten.
Grundsätzlich können Ärzte aller Fachrichtungen – ohne besondere Zusatzqualifikation – Dronabinol (sowohl als Fertigals auch als Rezepturarzneimittel), Nabilon und der Cannabisextrakt Sativex auch außerhalb der zugelassenen Indikationen (off-label) im Rahmen eines individuellen Heilversuchs verordnen, wenn sich Arzt und Patient hiervon einen Nutzen versprechen.
Eine solche off-label Behandlung mit Cannabismedikamenten wird in der täglichen Praxis allerdings dadurch erschwert, dass die gesetzlichen Krankenkassen meist eine Kostenübernahme ablehnen. Die monatlichen Kosten für eine Behandlung mit Dronabinol belaufen sich bei einem durchschnittlichen Tagesbedarf von 10-15 mg auf etwa 250 bis 400 €, die von den Patienten im Allgemeinen selbst aufgebracht werden müssen.

1.2 Behandlung mit Cannabis auf Grundlage einer Ausnahmeerlaubnis nach BtMG
Alternativ können Patienten bei der Bundesopiumstelle des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) eine Ausnahmeerlaubnis nach § 3 Abs. 2 BtMG zum Erwerb von Medizinal-Cannabisblüten zur Anwendung im Rahmen einer ärztlich begleiteten Selbsttherapie beantragen. Eine solche Erlaubnis ist nach dem Gesetz zwar „nur für wissenschaftliche oder andere im öffentlichen Interesse liegende Zwecke“ möglich. Allerdings hat das Bundesverwaltungsgericht in einem Urteil vom 19. Mai 2005 festgestellt, dass auch die medizinische Versorgung der Bevölkerung ein solches „öffentliches Interesse“ darstellt. Im Antrag muss der Patient darlegen, dass andere Therapien nicht ausreichend wirksam waren und eine Behandlung mit anderen Cannabismedikamenten nicht möglich ist, etwa weil die Kosten einer Behandlung mit verschreibungsfähigen Cannabismedikamenten nicht von der Krankenkasse übernommen werden. Dem Antrag muss zudem eine ärztliche Stellungnahme beigefügt werden.
Nach Erteilung der Erlaubnis wird das im Auftrag des niederländischen Gesundheitsministeriums von einem niederländischen Unternehmen hergestellte Cannabiskraut an eine vom Patienten benannte deutsche Apotheke geliefert. Die Kosten für diese Behandlung müssen vom Patienten getragen werden. Cannabisblüten aus der Apotheke kosten etwa 15-25 € pro Gramm. Bei einem Tagesbedarf von 0,5-1 g ergeben sich monatliche Kosten von etwa 300 bis 600 €.

2. Der medizinische Bedarf an Medikamenten auf Cannabisbasis
Es liegen keine zuverlässigen Schätzungen zur Zahl der Patienten in Deutschland, die Cannabisprodukte aus medizinischen Gründen verwenden bzw. von einer Verwendung profitieren würden, vor. Es existieren jedoch einige Daten zur Verwendung von Medikamenten auf Cannabisbasis aus anderen Ländern, die eine Abschätzung der Größenordnung des Bedarfs ermöglichen.

2.1 Dronabinol und Nabilon Nach Insight Health (http://www.insighthealth.de/) wurden im Jahr 2013 insgesamt 10.800 Einheiten Dronabinol mit einem Gesamtwert von 1,3 Mio. Euro abgegeben. Diese Daten liegen vermutlich etwas höher, da weitgehend nur der Großhandel berücksichtigt wird und Dronabinol vom Hersteller THC Pharm direkt an die Apotheken geliefert wird. Unter der Annahme eines Umsatzes im Gesamtwert von 2 Millionen Euro und einem Abgabepreis an die Apotheken von 90 € für 250 mg wurden von den beiden Herstellern in Deutschland (THC Pharm und Bionorica Ethics) etwa 5,5 kg an deutschen Apotheken abgegeben. Nabilon kommt wegen seines höheren Preises nur selten zum Einsatz.
Bei einem angenommenen Tagesbedarf von 15 mg Dronabinol werden jährlich von einem Patienten etwa fünf Gramm Dronabinol benötigt, sodass unter dieser Annahme mit 5,5 kg Dronabinol etwa 1100 Patienten kontinuierlich versorgt werden können. Die Kosten der Behandlung werden durch die Krankenkassen nur selten erstattet, da Dronabinol in Deutschland arzneimittelrechtlich nicht zugelassen ist und daher keine Erstattungspflicht besteht.

2.2 Sativex
Seit 2011 ist in Deutschland der Cannabisextrakt Sativex (Hersteller: GW Pharmaceuticals; Vermarktung in Deutschland durch Almirall) für die Behandlung mittelschwerer bis schwerer Spastik bei erwachsenen Patienten mit Multipler Sklerose, bei denen andere Behandlungsverfahren nicht ausreichend wirksam sind, arzneimittelrechtlich zugelassen. Nur für diese Indikation sind die Krankenkassen zu einer Kostenübernahme verpflichtet. Nach Insight Health (http://www.insight-health.de/) wurden im Jahr 2013 insgesamt 16.200 Einheiten verkauft. Eine Einheit enthält 810 mg Dronabinol. Unter der Annahme eines durchschnittlichen Monatsverkaufs von 1350 Einheiten und eines Tagesbedarfs von 15 mg Dronabinol (THC) wurden 2430 Patienten mit Sativex behandelt.

2.3 Cannabis In Kanada, den Niederlanden, Israel und 20 Staaten der USA ist die medizinische Verwendung von Cannabis mit einer ärztlichen Empfehlung bzw. Verordnung erlaubt.
In Kanada (Einwohnerzahl: 33 Millionen) besaßen im Dezember 2012 28.115 Personen eine Erlaubnis zum Besitz von Cannabis für medizinische Zwecke nach den Marihuana Medical Access Regulations (MMAR) sowie 18.063 Personen eine Erlaubnis zum Anbau von Cannabis für medizinische Zwecke für sich selbst und 3.405 eine Erlaubnis für den Anbau für einen bestimmten Patienten. 57 Danach besaßen 0,085 % der Bevölkerung oder 850 von 1 Million eine Erlaubnis zum Besitz von Cannabis für medizinische Zwecke. Es wird in den kommenden Jahren eine deutliche Steigerung der Patientenzahl erwartet. Am 1. Oktober 2013 begann Kanada entsprechend eines neuen Gesetzes mit dem Aufbau einer kontrollierten privaten medizinischen Cannabis-Industrie, von der erwartet wird, dass sie innerhalb von 10 Jahren 1 Milliarde kanadische Dollar umsetzen wird (Time Magazine vom 2. Oktober 2013).
Im Jahr 2013 überstieg die Zahl der Patienten in Israel, die Cannabis zu medizinischen Zwecken verwenden dürfen, 12.000 (bei einer Einwohnerzahl von 8,0 Millionen). 58 Dies entspricht 0,15 % der Bevölkerung. In den kommenden Jahren wird eine Gesamtzahl von 40.000 Patienten oder 0,5 % der Bevölkerung erwartet.
In den Vereinigten Staaten dürfen im Staat Oregon 60.516 Personen Cannabis für medizinische Zwecke besitzen (Stand: 1. Januar 2014). 59 Dies entspricht bei einer Einwohnerzahl von 3,4 Millionen etwa 1,8 % der Bevölkerung oder 18.000 von 1 Million. Demnach verwenden zwischen etwa 0,1 und 2 % der Bevölkerung Cannabis aus medizinischen Gründen oder würden ihn verwenden, wenn dies möglich wäre, was für Deutschland 80.000 bis 1,6 Millionen Patienten entspricht. In Deutschland besitzen nur sehr wenige Patienten – etwa 230 – eine Ausnahmeerlaubnis für die Verwendung von Cannabisblüten aus der Apotheke.

3. Zu Argumenten gegen eine Erlaubnis zur medizinischen Verwendung von Cannabis
Das wichtigste Argument für die anhaltende Kriminalisierung von Patienten, die sich Cannabisprodukte aus der Apotheke nicht leisten können, ist die Behauptung, dass Patienten vor nicht qualitätsgeprüften Cannabisprodukten geschützt werden sollten.
Von einem Arzneimittel aus der Apotheke muss man erwarten können, dass die Inhaltsstoffe des Präparates angegeben sind, ihre Konzentrationen bekannt sind und keine Verunreinigungen bestehen. Das soll und muss nach Auffassung der ACM auch für Arzneimittel auf Cannabisoder Cannabinoidbasis aus der Apotheke gelten.

Die Forderung, dass Patienten, die (illegalisierten) Cannabis aus medizinischen Gründen verwenden, nicht länger einer Strafverfolgung ausgesetzt sein dürfen, bezieht sich nicht auf Arzneimittel aus der Apotheke. Die betroffenen Patienten wissen, dass sie, wenn sie selbst angebauten Cannabis verwenden, kein Arzneimittel nach dem Arzneimittelrecht einnehmen. Darauf hat bereits das Bundesverwaltungsgericht in einem Urteil vom 19. Mai 2005 hingewiesen, indem es zur Legitimierung der Verwendung von selbst angebautem Cannabis ausführt: „Dabei ist sich der Betroffene bewusst, dass es keinerlei Gewähr für die therapeutische Wirksamkeit des eingesetzten Betäubungsmittels gibt.“ 60 Wenn gegen die Verwendung von Dronabinol und von Cannabis mit einer arzneilichen Qualität rechtlich nichts einzuwenden ist, so würde sich die Aufrechterhaltung der Strafbarkeit der medizinischen Verwendung von Cannabis ohne arzneiliche Qualität nicht gegen die Verwendung von Cannabis selbst, sondern gegen seine mangelnde Qualität (beispielsweise Verunreinigung mit Pestiziden, fehlende Standardisierung auf wichtige Inhaltsstoffe) richten. Die Verwendung von Cannabis wäre danach grundsätzlich nicht strafbar, sondern man möchte mit dem Strafrecht gegen die Verwendung von Pestiziden und anderen Qualitätsmängeln vorgehen. Da diese möglicherweise mangelhafte Qualität in anderen Lebensbereichen der Selbstversorgung (zum Beispiel beim Anbau von Tabak oder Gemüse im eigenen Garten) keine strafrechtliche Rolle spielt, ist diese Position unhaltbar.
Zudem sei an dieser Stelle betont, dass der Grund für mögliche schädliche Beimengungen die gegenwärtige Rechtslage ist, die viele Patienten zwingt, sich auf dem Schwarzmarkt mit Cannabis zu versorgen. Sobald ein Patient eine Genehmigung zum Import von Cannabis aus den Niederlanden oder zum Eigenanbau besitzt, wird er die Möglichkeit haben, ein qualitativ hochwertiges Produkt aus einer niederländischen Apotheke erwerben zu können oder ein biologisch hochwertiges Produkt selbst anzubauen.

4. Zweiklassenmedizin beim Einsatz von Cannabisprodukten
Die Verwendung von Dronabinol, Nabilon oder Sativex erfordert entweder eine Kostenübernahme durch die Krankenkasse, die mit Ausnahme von Sativex bei der Indikation Spastik bei multipler Sklerose überwiegend verweigert wird, oder eine Selbstfinanzierung des Medikamentes. Auch Cannabis aus der Apotheke ist für viele Patienten nicht erschwinglich. Ausnahmegenehmigungen zum preiswerteren Eigenanbau von Cannabis wurden von der Bundesopiumstelle bisher nicht erteilt.
Daher sind vermögende Patienten in Deutschland hinsichtlich der Möglichkeiten der medizinischen Nutzung von Cannabisprodukten deutlich besser gestellt als weniger vermögende Patienten. Es besteht daher in diesem Bereich eine Zweiklassenmedizin. Dies wurde bereits auch von einigen Strafgerichten im Zusammenhang mit einem Vorwurf des illegalen Cannabisbesitzes bzw. Eigenanbaus durch chronisch Kranke entsprechend berücksichtigt. Denn es wurden bereits einige Patienten vom Vorwurf des illegalen Cannabisanbaus aus Notstandsgesichtspunkten freigesprochen, die sich die verschreibungsfähigen Cannabinoide und auch die Cannabisblüten aus der Apotheke finanziell nicht leisten konnten. 61

5. Schlussfolgerung: Unterversorgung der deutschen Bevölkerung
Die Fakten zeigen, dass die Versorgung der deutschen Bevölkerung mit Medikamenten auf Cannabisbasis unzureichend ist und vom Vermögen der Patienten abhängt. Zudem können gelegentlich angeführte Argumente gegen die dringend notwendige Verbesserung der gesundheitlichen Lage der betroffenen Patienten nicht überzeugen.

Nach den vorliegenden Daten erhalten in Deutschland weniger als 4000 Patienten eine Behandlung mit einzelnen Cannabinoiden, Cannabisextrakten oder Cannabisblüten. Dies bedeutet, dass gemessen am Bedarf, wie er in Ländern wie Kanada, Israel und einigen Staaten der USA ermittelt wurde, nur ein Bruchteil der Patienten, die eine solche Behandlung benötigen, Zugang zu einer entsprechenden Therapie haben. Der in diesen Ländern ermittelte Bedarf beläuft sich auf 0,1-2 % der Bevölkerung oder 80.000 bis 1,6 Millionen Patienten in Deutschland. Es besteht daher eine deutliche Unterversorgung der deutschen Bevölkerung mit Medikamenten auf Cannabisbasis.

57 Kanadisches Gesundheitsministerium (Health Canada): Stakeholder Statistics. Verfügbar online unter: http://www.hc-sc.gc.ca/dhp-mps/marihuana/stat/index-eng.php
58 IACM-Webseite. http://www.cannabis-med.org/german/bulletin/ww_de_db_cannabis_artikel.php?id =391#10
59 Oregon Department of Human Services. Oregon Medical Marijuana Program (OMMP). Statistics. Verfügbar online unter: http://public.health.oregon.gov/DiseasesConditions/ ChronicDisease/MedicalMarijuanaProgram/Pages/da ta.aspx
60 BverwG 3 C 17.04 vom 19.5.2005. Verfügbar online unter: http://www.bundesverwaltungsgericht.de
61 Vgl. Urteil des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 24. Juni 2004 (3 Ss 187/03). Pressemitteilung verfügbar unter: http://www.cannabis-med.org/ german/germany/olg_karlsruhe.pdf.

Literatur
BverwG 3 C 17.04 vom 19.5.2005. Verfügbar online unter:
http://www.bundesverwaltungsgericht.de (Abgerufen am 10.02.2014).
IACM-Webseite. http://www.cannabismed.org/german/bulletin/ww_de_db_cannabis_artik el.php?id=391#10 (Abgerufen am 10.02.2014).
Kanadisches Gesundheitsministerium (Health Canada). Stakeholder Statistics. Verfügbar online unter: http://www.hc-sc.gc.ca/dhp-mps/marihuana/ stat/index-eng.php (Abgerufen am 10.02.2014).
Oregon Department of Human Services. Oregon Medical Marijuana Program (OMMP). Statistics. Verfügbar online unter: http://public.health.oregon.gov/DiseasesConditions/ ChronicDisease/MedicalMarijuanaProgram/Pages/da ta.aspx (Abgerufen am 10.02.2014).
Urteil des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 24. Juni 2004 (3 Ss 187/03). Pressemitteilung verfügbar unter: http://www.cannabis-med.org/german/ germany/olg_karlsruhe.pdf. Weitere Urteile zum Thema Cannabis als Medizin finden sich hier: http://www.cannabismed.org/index.php?tpl=page&id=59&lng=de.

Berufliche Teilhabe suchtkranker Menschen in der Krise

Von Olaf Schmitz

Infolge der Einführung des SGB II (Sozialgesetzbuch, zweites Buch) im Jahr 2005 wurden verschiedene Instrumente für Langzeitarbeitslose implementiert, die vor allem arbeitsmarktfernen Personengruppen mit mehrfachen Vermittlungshemmnissen einen Weg in Beschäftigung und Qualifizierung ebnen sollten. Die Möglichkeiten zur Schaffung von Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung (AGH MAE) nach § 16d SGB II (sog. „1-Euro-Jobs“) sowie von Arbeitsplätzen, die mit einem Beschäftigungszuschuss nach § 16e SGB II gefördert wurden, versetzten viele Einrichtungen der Suchthilfe und der Beschäftigungsförderung (erstmals) in die Lage, in größerem Umfang Arbeitsprojekte und Beschäftigungsmöglichkeiten für abhängigkeitskranke Menschen einzurichten, die ein Durchbrechen der Spirale suchtbedingter und -begleitender Ausgrenzungseffekte vom Arbeitsmarkt ermöglichten und so zur persönlichen Stabilisierung und Weiterentwicklung der TeilnehmerInnen beitragen.

Die Bandbreite der neu entstandenen Beschäftigungsmöglichkeiten für Abhängigkeitskranke war dabei ausgesprochen vielfältig. Sie reicht von unterstützenden Arbeiten in hauswirtschaftlichen oder haustechnischen Bereichen von Suchthilfeeinrichtungen, wodurch die Angebotsqualität und -quantität häufig spürbar verbessert wurde, über umfangreiche qualifizierende und tagesstrukturierende Maßnahmen mit verschiedensten Arbeitsbereichen bis hin zu unterschiedlichsten Projekten zur Verbesserung kommunaler oder regionaler Infrastruktur mit spürbarem Nutzen für die Allgemeinheit.
Ergänzt wurden diese meist niedrigschwelligen Beschäftigungsmöglichkeiten durch die öffentliche Förderung längerfristiger sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung, die die Einrichtung neuer Arbeitsplätze in sozialen Einrichtungen oder eine Vermittlung in Betriebe des allgemeinen Arbeitsmarktes ermöglichte.
Die positiven Auswirkungen und Potenziale dieses Ausbaus von Beschäftigungsmöglichkeiten und einer stärkeren Fokussierung auch auf die berufliche Teilhabe suchtkranker Menschen haben sich dabei in den letzten Jahren eindeutig erwiesen:
Häufig trägt eine sinnstiftende Beschäftigung dazu bei, eine erreichte Abstinenz zu festigen bzw. Alkoholund/ oder Drogenkonsum erheblich zu reduzieren. Eine Stabilisierung der psychosozialen Situation kann oftmals durch begleitende Beratungsund Betreuungsangebote erreicht werden: Allgemeine und arbeitsmarktbezogene Schlüsselqualifikationen werden verbessert, Straffälligkeit wird vermieden oder Schuldenproblematiken können reguliert werden. Beschäftigungsangebote, die vorhandene psychische oder somatische Beeinträchtigungen berücksichtigen und angemessene Anforderungen an die Beschäftigten stellen, tragen oftmals zu einer Steigerung der Leistungsfähigkeit, einer Verbesserung des Gesundheitszustands sowie zu einer Stärkung des Selbstwertgefühls und der Selbstregulierungspotenziale für eine persönliche Weiterentwicklung bei. Weiterbildende und qualifizierende Elemente sowie eine aktive und integrierte Auseinandersetzung mit beruflichen und psychosozialen Entwicklungsperspektiven sind notwendige Schritte auf dem Weg in eine längerfristige soziale und berufliche Integration und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.

Die Erfahrungen und Erfolge dieser Maßnahmen sprechen also eigentlich deutlich dafür, Beschäftigungsangebote für Suchtkranke flächendeckend in Deutschland auszubauen und die in den letzten Jahren gewachsenen Strukturen weiterzuentwickeln oder zumindest den Bestand zu sichern. Stattdessen sind viele dieser Maßnahmen seit Beginn 2011 durch massive Einschnitte bei den Eingliederungsleistungen für erwerbsfähige Hilfebedürftige nach dem SGB II sowie durch die 2012 in Kraft getretene Instrumentenreform durch das „Gesetz zur Leistungssteigerung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente“ in ihrem Bestand bedroht oder mussten bereits eingestellt werden.
Die folgenden Zahlen belegen eindrucksvoll die Dimension der Sparpolitik der letzten Jahre im Bereich beschäftigungspolitischer Instrumente: 2010 wurden den Jobcentern bundesweit noch 6,6 Milliarden Euro für „Leistungen zur Eingliederung nach dem SGB II“ zugewiesen, seitdem aber bis 2013 sukzessive um 41 % auf 3,9 Mrd. Euro reduziert. Die Zahl der AGH MAE-Plätze wurden von Februar 2010 bis Februar 2014 um 71 % zusammengestrichen (02/2010: 288.253 Plätze, 02/2014: 84.109 Plätze), mit Lohnkostenzuschüssen nach § 16e SGB II geförderte Arbeitsplätze gar um über 80 % (von 42.286 Plätzen im Februar 2010 auf 8.152 Plätze im Februar 2014). Vergleichsweise glimpflich betroffen waren Qualifizierungsmaßnahmen mit einer Bestandsreduzierung von 33 % 53 .
Längst nicht allen Trägern ist es möglich, auf dem Hintergrund sich verringernder Förderungen zumindest „abgespeckte“ Arbeitsangebote aufrechtzuerhalten. Personelle und qualitative Einschränkungen erschweren es dabei immer mehr, den spezifischen und multiplen Bedarfen der Zielgruppe abhängigkeitskranker Menschen gerecht zu werden.

Eine im November 2013 durchgeführte telefonische Befragung von insgesamt 16 Trägern in NRW (Schmitz 2013) 54 , die nach Einführung des SGB II Anfang 2005 Arbeitsprojekte für Suchtkranke aufgebaut bzw. unterhalten haben, verdeutlicht die flächendeckenden Auswirkungen der Sparpolitik seit 2010: 4 befragte Träger haben ihre Beschäftigungsangebote vollständig eingestellt, weitere 7 Träger berichteten von Kürzungen der Teilnehmerplätze (insgesamt sind bei allen 16 Trägern von ursprünglich 449 Plätzen mehr als 100 weggebrochen, eine Reduzierung um 22,5 %) und z.T. erheblichen Einbußen bei der finanziellen Ausstattung der Maßnahmen; lediglich 5 Träger gaben an, keine nennenswerten Einbußen gehabt zu haben.

Dass diese Erhebung für das Bundesgebiet nicht repräsentativ sein dürfte und die Einschnitte von Beschäftigungsangeboten auch für die Personengruppe abhängigkeitskranker Menschen wahrscheinlich insgesamt noch drastischer ausfallen, zeigt die jüngst erschienene Längsschnittumfrage zur Arbeitsmarktpolitik des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes unter seinen Mitgliedseinrichtungen: „In den vier Untersuchungsjahren ist bei den in der Arbeitsförderung tätigen Mitgliedsorganisationen die Zahl ihrer Teilnehmer um insgesamt 49 Prozent reduziert worden. Am stärksten sind die Verluste bei den Arbeitsgelegenheiten, die in zwei Jahren um zwei Drittel verringert wurden.“ 55 Wie wichtig es indes wäre, gerade suchtkranken Personen eine Beschäftigungsperspektive zu bieten, „zeigt die ARA-Studie (Henkel, Zemlin 2004-2008), wonach unter Bedingungen von Arbeitslosigkeit 35% der Alkoholabhängigen bereits im ersten Monat nach einer Suchtrehabilitation rückfällig wurden, hingegen nur 19% unter Bedingungen von Erwerbstätigkeit. Umso dringlicher wäre daher wenigstens die nahtlose Vermittlung in arbeitsmarktpolitische Beschäftigungsund Qualifizierungsmaßnahmen (z.B. „1-Euro-Jobs“, berufliche Weiterbildung).“ 56
Doch die Auswirkungen sind nicht nur quantitativer Natur: Durch das im April 2012 in Kraft getretene „Gesetz zur Leistungssteigerung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente“ haben sich Förderbedingungen für Beschäftigungsträger und Leistungsempfänger zusätzlich verschlechtert: Während Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung vor der Instrumentenreform angemessene Qualifizierungsund Betreuungselemente enthalten konnten und sollten, ist seitdem eine ausschließliche Beschäftigung vorgesehen und förderungsfähig. Für suchtkranke Menschen mit ihren oftmals multiplen Problemlagen fallen somit Fördermöglichkeiten für Unterstützungsangebote weg, die für eine erfolgversprechende Teilnahme an den Beschäftigungsangeboten oftmals unabdinglich sind. Im besten Falle werden diese dann von den (Suchthilfe-) Trägern noch nebenher vom vorhandenen Personal erbracht oder sie entfallen gänzlich.
Um (in Ergänzung zur Beschäftigung in AGH MAE) Qualifizierungsangebote für die oftmals sehr gering qualifizierten Teilnehmenden in Arbeitsprojekten anbieten und notwendige Finanzierungsmöglichkeiten nutzen zu können, müssen Beschäftigungsträger sich seit Ende 2012 einem zeitund kostenintensiven Zertifizierungsprozess nach den Qualitätsstandards der Bundesagentur für Arbeit unterziehen. Entgegen der bisherigen Praxis vieler Jobcenter, gezielt geeignete örtliche Träger über eine sogenannte freihändige Vergabe mit der Durchführung solcher zielgruppenspezifischen Maßnahmen zu beauftragen, müssen diese nun in der Regel als „Aktivierungsmaßnahmen“ gem. § 45 SGB III öffentlich ausgeschrieben werden. Alternativ können die Jobcenter ausgewählten Trägern auch über sogenannte Gutscheinverfahren Teilnehmende für Qualifizierungen zuweisen; allerdings muss auch in diesem Fall ein entsprechendes Trägerkonzept zertifiziert und die notwendige Infrastruktur vom Träger vorgehalten werden. Bleiben die geplanten Plätze unbesetzt, liegt das finanzielle Risiko ausschließlich bei dem Träger. Dass längst nicht alle Einrichtungen in der Lage und willens sind, sich diesem Aufwand zu stellen und die Kosten hierfür aufzubringen, liegt auf der Hand.
Doch auch wenn Träger in einer Kommune oder Region diese Hürden überwinden und entsprechende Angebote vorhalten, eröffnet sich durch die geänderten rechtlichen Rahmenbedingungen ein weiteres Problem: Eine neuerdings gesetzlich vorgesehene Beschränkung der Teilnahmedauer an Arbeitsgelegenheiten wie auch der Beschäftigung in bezuschussten sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnissen auf max. 24 Monate innerhalb von 5 Jahren wird außerdem zukünftig in vielen Fällen dazu führen, dass Personen, die in diesem begrenzten Zeitrahmen nicht in den ersten Arbeitsmarkt integriert werden können, weitere Beschäftigung verwehrt bleibt.
Die Erwerbsbiografien langjährig abhängigkeitskranker Menschen sind oftmals von fehlender Ausbildung, kurzen und niedrig qualifizierten Beschäftigungsverhältnissen, langen Zeiten der Arbeitslosigkeit und/oder Inhaftierungen geprägt und viele weisen durch posttraumatische Belastungsstörungen, komorbide physische oder psychische Erkrankungen sowie durch Schulden, Vorstrafen, fehlende Fahrerlaubnis etc. zusätzliche Benachteiligungen in ihrer Beschäftigungsfähigkeit auf. Deshalb braucht diese Zielgruppe oftmals eine langfristig angelegte, intensive, flexible, vernetzte und vielfältige Betreuung.

Idealerweise umfasst die Angebotspalette der Betreuung die (Wieder-) Heranführung an eine regelmäßige Tagesstruktur, an arbeitsimmanente Anforderungen und Belastungen sowie arbeitsweltorientierte Qualifizierung bis hin zur flankierenden Bearbeitung psychosozialer und gesundheitlicher Problemlagen bzw. Vermittlung in entsprechende begleitende Hilfen.

Aber auch unter solch günstigen Rahmenbedingungen wäre eine Wiedereingliederung in den ersten Arbeitsmarkt bei weitem nicht immer eine realistische Perspektive, da viele abhängigkeitskranke Personen trotzdem auch auf längere Sicht die Anforderungen des ersten Arbeitsmarktes nicht erfüllen können bzw. sie keinen Zugang zu einem passenden Arbeitsplatz erhalten. Auch für diesen Teil der Zielgruppe werden weiterhin Beschäftigungsangebote mit Qualifizierung, sozialpädagogischer Betreuung und ggf. langfristiger Beschäftigungsperspektive gebraucht. Viele Menschen mit einer Suchterkrankung brauchen aufgrund von kumulierten Problemlagen einfach mehr Zeit und vernetzte Angebote, bis eine Integration gelingen kann. Für diejenigen, für die auch längerfristig der erste Arbeitsmarkt nicht erreichbar scheint, sind diese Angebote weiterhin dringend notwendig, weil sie soziale Teilhabe sicherstellen und Behandlungsverläufe positiv beeinflussen und somit ein wichtiger Baustein in der komplexen Bearbeitung von Suchtproblemen sind. Der Wegfall solcher Möglichkeiten gefährdet dementsprechend persönliche Entwicklungsverläufe bzw. lässt positive Synergieeffekte in der Suchtbehandlung ungenutzt verstreichen. Eine Investition in solche Maßnahmen ist dementsprechend nicht nur aus arbeitsmarktorientierten, sondern zudem aus gesundheitspolitischen und humanitären Gründen sinnvoll und auch ökonomisch, da sie potenzielle Folgekosten u.a. im Justizund Gesundheitswesen reduzieren.

Angesichts der weitreichenden Bedeutung von Beschäftigungsangeboten mit Qualifizierung und begleitenden Hilfen im Rahmen der Suchtkrankenhilfe läuft die Fokussierung auf eine kurzfristige Vermittlung in den ersten Arbeitsmarkt als ausschließlichem Erfolgsmaßstab für diese Zielgruppe völlig fehl. Individuelle Ausprägungen von Krankheitsverläufen, psychosozialen Lebenslagen und beruflichem Werdegang erfordern ein differenziertes Angebot an Beschäftigungsund Qualifizierungsangeboten.

Um (noch) vorhandene Strukturen abzusichern und diese zum Nutzen der Betroffenen zu konsolidieren und weiter auszubauen, ist gerade an diesem Punkt eine aktive gemeinschaftliche Sozial-, Arbeitsmarktund Gesundheitspolitik gefordert, die eine an den spezifischen Erfordernissen Abhängigkeitskranker orientierte (Weiter-) Entwicklung geeigneter Instrumente ermöglicht. Zudem ist aktuell mehr denn je ein offenes und kreatives Zusammenwirken aller mit Angeboten zur beruflichen, sozialen und medizinischen Wiedereingliederung befassten Akteure und Fördergeber vonnöten, um vorhandene Instrumente möglichst sinnvoll, komplementär und wirtschaftlich im Sinne einer Stabilisierung und Integration der suchtkranken Menschen zu nutzen.

Schließlich ist immer wieder die Politik gefordert, rechtliche Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass möglichst barrierefreie Schnittstellen zwischen den verschiedenen Fördermaßnahmen und Eingliederungshilfen möglich sind, um langfristig positive Entwicklungsverläufe nicht zu gefährden bzw. erst zu ermöglichen.

53 Bundesagentur für Arbeit: Der Arbeitsund Ausbildungsmarkt in Deutschland – Monatsbericht Februar 2010, Nürnberg 2010 und Monatsbericht Februar 2014, Nürnberg 2014
54 53. DHS-Fachkonferenz Sucht zum Thema: „Sucht und Arbeit“, Vortrag Olaf Schmitz (Krisenhilfe Bochum), Essen 05.11.2013
55 Der Paritätische Gesamtverband: Längsschnittumfrage zur Arbeitsmarktpolitik zwischen 2010 und 2013 Tiefgreifende Einschnitte bei der Förderung von Langzeitarbeitslosen, Berlin 2014 56 53. DHS-Fachkonferenz Sucht zum Thema: „Sucht und Arbeit“, Vortrag „Integration Suchtkranker in Arbeit Stagnation auf niedrigem Niveau“, Prof. Dr. Dieter Henkel (Fachhochschule Frankfurt a.M.), Essen 04.11.2013

Der Einsatz von Naloxon durch geschulte Laien

Von Kerstin Dettmer

Naloxon
Der schnellste spezifische Weg, eine opiatbedingte Atemdepression zu beseitigen, ist die Injektion des Opiatantagonisten Naloxon (Handelsname Narcanti®). Dieser wird bereits seit mehr als 40 Jahren zur Behandlung von Opiatüberdosierungen eingesetzt. Naloxon kann innerhalb weniger Minuten lebensbedrohliche Effekte wie Atemlähmung, Hypoxie, Bewusstlosigkeit und Blutdruckabfall aufheben. In höheren Dosierungen kann Naloxon einen Entzug auslösen. Eine Überdosierung ist nicht möglich. Nebenwirkungen wie Herzrhythmusstörungen und Lungenödem sind sehr, sehr selten. Naloxon ist in Deutschland nur in Ampullen verfügbar, die eigentliche Darreichungsform eine intravenöse, intramuskuläre oder subkutane Injektion. Es kann jedoch auch mittels eines Nasalzerstäubers in die Nase gespritzt werden. Der Nasalzerstäuber wird, nachdem Naloxon in eine Spritze aufgezogen wurde, auf diese gesetzt. Er verteilt das Medikament beim Spritzen durch feine Düsen, so dass eine optimale Resorption über die Schleimhaut erfolgen kann. Die Halbwertzeit von Naloxon liegt zwischen 30 und 80 Minuten, sie ist damit deutlich kürzer als die der gebräuchlichen Opiate. So kann eine vorübergehende Bewusstseinsaufklarung nach erfolgter Naloxoninjektion täuschen. Ein erneuter Atembzw. Kreislaufstillstand droht. Dieser Zustand kann dann mit einer weiteren Naloxon-Gabe erneut behoben werden.
Naloxon ist verschreibungspflichtig, kann also von einem Arzt auf (Privat-) Rezept (Kosten für eine Ampulle: ca. 7€) verordnet werden.

Rechtliche Aspekte der Naloxonvergabe
Immer wieder werden Skepsis oder Befürchtungen von Fachleuten, die sich für die Naloxon-Abgabe interessieren, hinsichtlich der rechtlichen Problematik der NaloxonVergabe an Drogengebraucher/innen Rahmen der Laienhilfe geäußert. National und international betrachtet scheint dies einer der Haupthinderungsgründe zu sein, Naloxon in die Hände von Opiatkonsument/innen zu geben.

Naloxon ist gemäß bundesdeutschem Arzneimittelgesetz verschreibungspflichtig. Das Arzneimittelgesetz regelt nur den Verkehr (Verschreibungspflicht, Abgabe durch Apotheken etc.). Es gibt keinerlei Regelungen (und dementsprechend Einschränkungen) hinsichtlich der Anwendung.

Die Bundesärztekammer hat in einer Stellungnahme Anfang 2002 bestätigt, dass in standesrechtlicher Hinsicht keine Bedenken gegenüber einer Naloxonabgabe zum Zwecke der Laienhilfe im Drogennotfall bestehen, da aufgrund der Substanzeigenschaften und des Einsatzzweckes nicht zu befürchten ist, dass ein Arzt/ eine Ärztin der missbräuchlichen Anwendung seiner Verschreibung (§ 34 Abs. 4, Muster-Berufsordnung) Vorschub leistet. Die Verwendung des Arzneimittels ist zusätzlich beim Einsatz im Notfall durch § 34 StGB (“Rechtfertigender Notstand”) gedeckt. Der Arzt/ die Ärztin muss allerdings einer besonderen Aufklärungspflicht Genüge tun, durch die er/sie nicht dadurch entbunden wird, dass andere Institutionen Schulungsund Informationsmaßnahmen durchführen. Die Bundesärztekammer legt großen Wert auf die Auffor-derung an die Naloxon-Empfänger/innen, zusätzlich den Rettungsdienst zu alarmieren. Hat der Arzt/ die Ärztin im Einzelfall den Eindruck, dass der/ die Naloxon-Interessent/in keine Schulung bzw. Informationen anzunehmen bereit ist und/ oder den Rettungsdienst nicht informieren würde, sollte kein Naloxon verordnet werden.

Das Fazit der Stellungnahme der Bundesärztekammer ist, dass die Naloxon-Verschreibung im Rahmen von Laienhilfe gesetzlich nicht ausdrücklich geregelt ist. Es gibt jedoch keinerlei Hinweise, dass NaloxonAbgabe durch Ärzte/ Ärztinnen an Laien rechtlich problematisch sei, solange die allgemeingültigen Regelungen des Arzneimittelrechts und der ärztlichen Berufsordnung (Verschreibungs-, Apotheken-, Aufklärungsund Schulungspflicht) eingehalten werden.

In einer Stellungnahme des Bundesministeriums für Gesundheit vom August 2008 wird der Einsatz von Naloxon durch Laien wie folgt bewertet: Im Hinblick auf die Anforderungen in § 2 Abs. 1 Nr. 3 der AMVV, geht die AMVV grundsätzlich davon aus, dass die Person, für die ein Arzneimittel verschrieben wird, mit der Person identisch ist, bei der das Arzneimittel zur Anwendung kommt. Aber auch das Bundesgesundheitsministerium berücksichtigt allgemeine Rechtfertigungsgründe, die eine Ausnahmemöglichkeit rechtlich nicht ausschließen. Naloxon kann somit im Rahmen eines Notfalles ausnahmsweise bei einer anderen Person, als der, für die es verschrieben wurde, zur Anwendung gebracht werden, wenn gesundheitliche Folgen bzw. Gefahren nicht anders als durch unverzügliche Verabreichung von Naloxon abgewendet werden können.
Hingewiesen wird außerdem auf die bestehenden medizinischen und rechtlichen Risiken, die mit einer von medizinischen Laien im Notfall vorgenommenen parenteralen Applikation von Naloxon verbunden sind.

Fazit der Stellungnahme des Bundesministeriums für Gesundheit:
Die Naloxon-Verschreibung im Rahmen von Laienhilfe ist gesetzlich nicht ausdrücklich geregelt. Die bestehende Rechtslage schließt jedoch die Verabreichung von Naloxon durch qualifizierte Laienhelfer nicht aus.

Aktuell hat der DGS-Vorstand zwei gleichlautende Anfragen zu berufs-, arzneiund betäubungsmittelrechtlichen Aspekten der Naloxon-Verordnung an das BMG und an die BÄK gestellt, um eine Aktualisierung der Stellungnahmen zu erwirken.

Naloxonverschreibung in der Praxis Für die Verschreibung müssen folgende Bedingungen erfüllt werden:
– Naloxon-Empfänger/innen werden zum situationsangemessenen Verhalten im Drogennotfall und in der Anwendung von Naloxon qualifiziert.
– Die Aufklärung und Naloxon-Abgabe werden dokumentiert.
– Naloxon-Empfänger/innen müssen selbst Opiatkonsument/innen sein.

Eine Verschreibung von Naloxon an Personen, für die keine Indikation vorliegt (beispielsweise nichtkonsumierende Lebenspartner/ innen oder Sozialarbeiter/innen) ist gemäß AMVV nicht möglich. Es empfiehlt sich jedoch durchaus, Lebenspartner/innen, Familienangehörige oder Sozialarbeiter/innen in Drogenhilfe-Einrichtungen zum angemessenen Verhalten im Notfall zu schulen. Sollten diese Laienhelfer/innen im Notfall Naloxon bei überdosierten Konsument/innen finden und dieses injizieren, sind sie als Ersthelfer/in vor rechtlichen Konsequenzen geschützt. Alltagsnah ist es zudem, „Konsumgemeinschaften“ in der Anwendung von Naloxon zu schulen und allen Teilnehmer/innen Naloxon zu verschreiben. Im Idealfall hätten somit alle Opiatkonsument/innen ihr eigenes Naloxon in der Tasche und Konsumpartner/innen wüssten den Antagonisten adäquat einzusetzen.

Berliner Modellprojekt und was daraus wurde
Das Berliner Modellprojekt „Prävention von Drogennotund –todesfällen/ Erste HilfeKurse und Naloxon-Einsatz durch Drogengebraucher/innen“ von Fixpunkt e. V. (Dezember 1998 bis Dezember 2002) konnte den Beweis erbringen, dass sowohl die Schulung (Erste Hilfe-Maßnahmen im Drogennotfall) und die Vergabe von Naloxon an aktive Opiatkonsument/innen, als auch der verantwortungsbewusste Einsatz von Naloxon machbar sind. Ebenso konnte grundsätzlich nachgewiesen werden, dass Opiatkonsument/innen die notwendige Compliance im Hinblick auf die Berichterstattung nach dem Einsatz von Naloxon erbringen.

Im Anschluss an das Modellprojekt gab es keine adäquate Folgefinanzierung, so dass Drogennotfalltrainings und Naloxonverschreibung nur in sehr kleinem Umfang weiterhin angeboten werden können. Während über 100 Berichte zur Naloxonanwendung aus der Zeit des Modellprojekts vorliegen, gab es in den letzten Jahren nur noch sehr selten Rückmeldungen. Eine regelmäßige Präsenz des Projektes scheint eine wichtige Voraussetzung zu sein, um Rückmeldungen zu erhalten.

Bisher waren unsere Bemühungen weitestgehend vergeblich, Drogennotfalltrainings und Naloxonverschreibung konzeptionell und strukturell in Berlin oder gar Deutschland zu integrieren. Seit einigen Monaten gibt es allerdings vermehrt Nachfragen und auch schon konkrete Aktivitäten, diese Form der Drogentodesfallprävention in verschiedenen Settings umzusetzen.

Fazit
Naloxonvergabe an Drogengebraucher/innen, aber auch an andere potenzielle Ersthelfer/ innen ist eine in vielen Ländern erprobte und erfolgreiche Maßnahme. Naloxon kann Leben retten und Folgeschäden aufgrund einer Sauerstoffunterversorgung verhindern.
Die rechtlichen Rahmenbedingungen zur Naloxonverschreibung in Deutschland sind nicht optimal, aber es ist durchaus möglich, Opiatkonsument/innen Naloxon zu verschreiben.
Daher wäre es perspektivisch ausgesprochen wünschenswert, dass alle potenziellen Ersthelfer/innen, z. B. Freunde, Familienangehörige oder auch Polizei, über Naloxon als Notfallmedikament verfügen können.

Zur Strafverfolgung substituierender Ärzte

Von Rainer Ullmann

Der §5 der Betäubungsmittelverschreibungsverordnung (BtMVV) („Verschreiben zur Substitution“) greift weit in ärztliche Behandlungsmodalitäten ein. Verstöße gegen diese Regelungen sind nicht strafbewehrt, aber trotzdem werden viele Ärzte wegen Verstößen gegen diese nicht strafbewehrten Regelungen verurteilt. Der Bundesgerichtshof (BGH) hat in mehreren Entscheidungen diese Urteile bestätigt.
1991 hatte der BGH auf die notwendige Gesetzesbestimmtheit hingewiesen und gefordert, an die Erfüllung des Tatbestandsmerkmals „keine Begründetheit der Anwendung am oder im menschlichen Körper“ (BGH 1991) strenge Anforderungen zu stellen, damit der Arzt weiß, wann er sich beim Verschreiben von Ersatzdrogen strafbar macht. Diese Vorgabe des BGH 1991 wird in vielen aktuellen Verfahren missachtet. Es ist für juristisch nicht vorgebildete Ärzte nicht leicht zu erkennen, dass sie sich durch Verstöße gegen nicht strafbewehrte Regelungen strafbar machen. Im §5 BtMVV sind explizit als Straftaten nur 2 Tatbestände sanktioniert: der Verzicht auf das Abstinenzziel und die Verordnung anderer als der ausdrücklich zur Substitution zugelassenen Betäubungsmittel.
Beides ist medizinisch nicht begründet:
Abstinenz kann oft nicht erreicht werden und prinzipiell sind alle Opiate zur Substitution des illegalen Heroin geeignet. In anderen Ländern werden auch andere Opiate als die nach der BtMVV erlaubten erfolgreich zur Substitutionsbehandlung eingesetzt. Die Regelungen der Behandlungsmodalitäten sind dagegen nicht strafbewehrt, worauf die ehemalige Drogenbeauftragte Caspers-Merk in der Antwort auf eine Kleine Anfrage hinwies (Caspers-Merk 2007).
Wenn Ärzte nicht sorgfältig arbeiten, kann das berufsrechtlich geahndet werden. Strafrechtlich werden sonst ärztliche Behandlungsfehler nur verfolgt, wenn ein Patient geschädigt wurde. In mehreren Bundesländern werden substituierende Ärzte bei Verstößen gegen die nicht strafbewehrte Mitgaberegelung verurteilt, auch wenn ihnen keine Schädigung des Patienten oder Dritter vorgeworfen wird. Richter verzichten manchmal auf sachkundige Gutachter und begründen das Urteil dann nicht sachgerecht. So heißt es in der Urteilsbegründung eines bayerischen Landgerichts (LG): „Dem Angeklagten stehen in keinem der Fälle Rechtfertigungsoder Entschuldigungsgründe zur Seite. Alleine die Inkaufnahme langer Anfahrtswege, das Interesse der Patienten an der Beibehaltung eines Arbeitsplatzes oder die Gefahr eines Wiederabgleitens in das Drogenmilieu rechtfertigen es nicht, von den genannten Regeln abzuweichen. Die Methadonsubstitution beinhaltet ein hohes Gefährdungspotential und ist nur unter enger ärztlicher Kontrolle und Begleitung zulässig.“ (LG Bayreuth 2007)

Die Lösung von der Drogenszene oder die Beibehaltung eines Arbeitsplatzes sind wesentliche Therapieziele bei der Behandlung von Heroinabhängigen; sie können nicht weniger wichtig sein als die „einschlägigen Vorschriften“. Das LG hätte auch wissen können, dass die Substitutionsbehandlung keine tödliche Gefahr ist, sondern die Sterblichkeit der Heroinabhängigkeit dramatisch senkt. Der Arzt wurde wegen 282 Straftaten, begangen bei der Behandlung von 10 Patienten, zu 20 Monaten Haft auf Bewährung verurteilt. Ihm wurde in keinem Fall vorgeworfen, einen Patienten geschädigt zu haben.

Auch die Urteilsbegründung eines anderen LG zeigt, dass ein suchtmedizinisch fundiertes Gutachten sinnvoll gewesen wäre, z.B., wenn das LG schreibt: „Das gesetzlich vorgeschriebene Ziel der Betäubungsmittelabstinenz wurde vom Angeklagten nicht ernsthaft verfolgt. … In der Regel wurden die Patienten über einen langen Zeitraum (teilweise mehrere Jahre) mit nahezu unveränderter Dosis substituiert.“ (LG Verden 2008) Es ist suchtmedizinisches Grundwissen, dass eine Substitutionsbehandlung oft jahrelang mit einer möglichst stabilen hohen Dosis durchgeführt  werden muss, um gute Behandlungsergebnisse zu erzielen. Dann behauptet das LG, nach der BtMVV sei bei Beikonsum die Verschreibung nicht mehr zulässig: tatsächlich erlaubt die BtMVV die Verschreibung eines Substitutionsmittels, solange der Patient nicht Stoffe konsumiert, die ihn zusammen mit der Einnahme des Substitutionsmittels gefährden.
Auch bei der Mitgabe wird die BtMVV nicht immer korrekt zitiert. Sie fordert nicht bei jedem Beikonsum, die Mitgabe zu beenden, sondern nur dann, wenn der Patient Stoffe konsumiert, die ihn zusammen mit der Einnahme des Substitutionsmittels gefährden. Als Voraussetzung für eine Mitgabe wurde schon 1998 (10. BtMÄndV) gefordert, dass der Beigebrauch nachhaltig reduziert wurde – nicht, dass er vollständig eingestellt wurde.

Manchmal werden fachfremde Ärzte als Gutachter bestellt. In Niedersachsen wurde ein Kardiologe, der beim Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) angestellt ist, eng mit der Ermittlungsgruppe für Abrechnungsbetrug der AOK zusammenarbeitet und keine eigene Erfahrung in der Substitutionsbehandlung hat, von mehreren Staatsanwaltschaften mit der Begutachtung von Substitutionsbehandlungen beauftragt. Er ist im Auftrag der Staatsanwaltschaft auch ermittelnd tätig geworden und hat in seinem Gutachten rechtliche Bewertungen abgegeben. Das ist juristisch nicht korrekt. In seinen Gutachten rechnet er z.B. die Gesamtmenge des in mehreren Jahren verschriebenen Methadons zusammen und berechnet daraus, wie viele gesunde Menschen lebensbedrohlich oder tödlich damit intoxikiert werden könnten. Diese Berechnung ist völlig unsinnig und zeigt die Voreingenommenheit des Gutachters. Nur in einem einzigen Verfahren wurde er wegen der Besorgnis der Befangenheit abgelehnt.

Ärzte dürfen Betäubungsmittel (BtM) nach dem Betäubungsmittelgesetz nicht abgeben nur aus der Apotheke darf auf ärztliches Rezept abgegeben werden. Nach dem Buchstaben des Gesetzes wird ein Arzt wie ein Dealer mit illegalem Heroin behandelt, wenn er dem Patienten einzelne Tagesdosen des   Substitutionsmedikaments aushändigt, das er aufgrund seiner Verschreibung aus der Apotheke erhalten hat. International ist die Abgabe aus der Behandlungseinrichtung üblich und sollte in einem Referentenentwurf für eine Novellierung der BtMVV vom 3.12.07 auch in Deutschland ermöglicht werden. Der BGH hat 2008 und 2009 entschieden, dass sich ein Arzt nach geltendem Recht strafbar macht, wenn er Betäubungsmittel (BtM) an drogenabhängige Patienten zur freien Verfügung abgibt.

Bei Todesfällen durch mitgegebene Substitutionsmedikamente wurde oft der behandelnde Arzt für das Fehlverhalten des Patienten verantwortlich gemacht – wenn z.B. der Patient das Medikament spritzt statt es am folgenden Tag zu trinken oder wenn er es an Dritte weitergab. 2008 hatte der BGH das Urteil eines LG bestätigt. Eine eigenverantwortliche Selbstschädigung habe nicht vorgelegen. Diese Rechtsprechung hat der BGH in 2 neueren Urteilen 2014 geändert und auf die eigene Verantwortung des Patienten hingewiesen.
Da nicht die Behandlung eines Patienten, sondern jede einzelne Verschreibung als eine Straftat gilt, wird wegen mehrerer Hundert Straftaten vor dem Landgericht angeklagt. Damit entfällt die Berufung vor einer weiteren Tatsacheninstanz; es ist nur Revision vor dem Bundesgerichtshof möglich.
Meist sprechen die Richter ein eingeschränktes Berufsverbot aus, das sich auf die Substitutionsbehandlung bezieht und verzichten auf ein allgemeines Berufsverbot.
Allerdings wird bei jeder Vorstrafe ein Verfahren zum Entzug der Approbation eingeleitet; es endet bei den Ärzten, die wegen Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz verurteilt wurden, meist mit dem Widerruf der Approbation wegen Unwürdigkeit. Empörung hat in Bayern das Verfahren gegen eine Ärztin ausgelöst, deren Approbation wegen Unzuverlässigkeit und Unwürdigkeit von der Regierung von Niederbayern widerrufen wurde. Begründet wurde das mit der Behauptung, sie hätte wegen eines „ärztlich nicht mehr beherrschbaren Beigebrauchs die Behandlung beenden müssen.“ (Regierung von Niederbayern 2007) Nachgewiesen wurde meist der Beikonsum von Cannabis und Benzodiazepinen; dieser begründet nach Richtlinien der Bundesärztekammer nicht den Abbruch der Behandlung. Für die bayerische Justizministerin ist die Substitutionsmedizin mit gesundheitlichen Risiken verbunden und deshalb an strenge Voraussetzungen geknüpft. Sie fordert deshalb konsequente, bei Vorsatz auch strafrechtliche Sanktionen (SZ 2012)– und ein Vorsatz ist nach der BGH-Entscheidung 2011 jedem substituierenden Arzt zu unterstellen. Folge ist, dass besonders in ländlichen Regionen nur noch wenige Ärzte bereit sind, Substitutionsbehandlungen durchzuführen. Die Substitutionsbehandlung senkt die Sterblichkeit der Heroinabhängigkeit. Dass die Zahl der Drogentoten in Bayern nicht wie in den meisten anderen Bundesländern sinkt, kann an der mangelnden Verfügbarkeit der Behandlungsplätze liegen.

Wenn man bedenkt, dass die Zahl der substituierten Patienten seit 1991 von wenigen Hundert auf 70000 gestiegen ist und dass in dieser Zeit
– die Zahl der Drogentoten von über 2000 auf etwa 950 gesunken ist,
– die Zahl der polizeibekannten Erstkonsumenten von Heroin von 10000 auf 3000 jährlich gesunken ist,
– die Zahl der polizeibekannten Erstkonsumenten von Substitutionsmedikamenten so gering ist, dass sie in den Polizeistatistiken nicht erfasst wird,
dann wird deutlich, dass substituierende Ärzte nicht zur Ausbreitung der Betäubungsmittelabhängigkeit beitragen. Es ist daher nicht zu begreifen, dass sie so hart mit Berufsverbot und Strafhaft verfolgt werden.

Die strafrechtliche Verfolgung von substituierenden Ärzten führt dazu, dass in einigen Regionen keine Substitutionsbehandlungen mehr angeboten werden. Hier wird der Schaden durch die Strafverfolgung deutlich. Abhilfe kann durch eine Schulung der Staatsanwälte, Richter und der Approbationsbehörden geschaffen werden; diese sollen wissen, dass Abweichungen von bestimmten Vorschriften nicht die ganze Behandlung unbegründet machen. Außerdem sollten Behandlungsmodalitäten nicht in der BtMVV geregelt werden.

Die Überprüfung der Qualität der ärztlichen Arbeit ist eine primär ärztliche Aufgabe. Es ist nicht sinnvoll, Abweichungen von den jeweils gültigen Behandlungsrichtlinien strafrechtlich zu verfolgen – medizinischer Fortschritt entwickelt sich durch die offene Diskussion über verschiedene Behandlungsansätze. Die Substitutionsbehandlung war lange strafrechtlich verboten und ist jetzt die Standardbehandlung der Heroinabhängigkeit. Die Mitgaberegelungen sind in den vergangenen 20 Jahren mehrfach geändert worden.

Die Anwendung von Strafrecht gegen substituierende Ärzte verstößt auch gegen das Übermaßverbot. Strafrecht ist ultima ratio staatlicher Sanktionen. Es ist nur dann gerechtfertigt, wenn ein bestimmtes Verhalten in besonderer Weise sozialschädlich, seine Verhinderung daher besonders dringlich und nicht anders als mit Strafrecht zu erreichen ist. Anders als Ende des 19. Jahrhunderts bei der Abhängigkeit von Morphin ist die Ausbreitung der Abhängigkeit von illegalem Heroin nicht den Ärzten anzulasten. Diese Abhängigkeit entsteht, weil Heroin trotz der Prohibition auf den Straßen verfügbar ist. Die Substitutionsbehandlung lindert die Schäden der Abhängigkeit von illegalem Heroin. Da Ärzte mit verwaltungsrechtlichen Maßnahmen (Entzug der Substitutionsgenehmigung, Entzug der BtM-Rezepte) davon abgehalten werden können, ihre Privilegien im Umgang mit BtM zu missbrauchen, ist Strafrecht nicht erforderlich und entspricht damit nicht dem grundgesetzlichen Gebot der Verhältnismäßigkeit.

Literatur
10. BtMÄndV vom 20.1.1998, Begründung BGH 1 StR 389/13 Beschl. vom 16.01.2014 (LG Augsburg)
BGH 1 StR 494/13 vom 28. Januar 2014 (LG Deggendorf) BGH 2 StR 577/07 vom 4. Juni 2008 (LG Hanau) BGH 3 StR 44/09 vom 28.7.2009 (LG Verden) BGH Beschluss 3 StR 8/91 vom 17.5.1991. NJW 1991, 2359
Caspers-Merk, M. (2007): Antwort auf eine kleine Anfrage betreffend die Verbesserung der Versorgungsqualität in der Substitutionsbehandlung für Opiatabhängige. BT-Drucksache 16/6508
Landgericht Bayreuth: 1 KLs 113 Js 5114/04 vom 24.10.2007 Landgericht Verden: 421 Js30197/04 vom 6.8.2008
Regierung von Niederbayern: Widerruf der Approbation als Ärztin, Bescheid vom 10.7.2012
SZ (2012): Drogenärzte auf der Anklagebank. 30.10.2012, http://www.sueddeutsche.de/bayern/mediziner-imkonflikt-mit-der-justiz-drogenaerzte-auf-deranklagebank-1.1509961 Mediziner im Konflikt mit der Justiz Drogenärzte auf der Anklagebank

Die diamorphingestützte Behandlung in Deutschland – oder was unterscheidet Diamorphin und Methadon eigentlich?

Von Dirk Schäffer

Es ist Donnerstag, der 28. Mai 2009, 17:30 – der Deutsche Bundestag beschließt nach 45-minütiger Debatte, dass Heroin (Diamorphin) zur Substitutionsbehandlung eingesetzt werden darf und zukünftig über die gesetzlichen Krankenkassen finanziert werden soll. In namentlicher Abstimmung stimmten 349 Parlamentarier für den Gruppenantrag von SPD, FDP, LINKE, DIE GRÜNEN. Drei Parlamentarier enthielten sich der Stimme und 198 stimmten mit „Nein“.
Auch wenn die Euphorie dieses Tages gewichen ist, so muss rückblickend diese Abstimmung als wichtiger Schritt hin zu einer Weiterentwicklung der Behandlung der Opiatabhängigkeit in Deutschland gewertet werden.
Wie in Deutschland üblich, oblag es dem Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA), dem obersten Beschlussgremium der gemeinsamen Selbstverwaltung von Ärzten, Krankenhäusern und Krankenkassen, zu entscheiden, unter welchen Bedingungen die Behandlung mit Diamorphin von der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) übernommen wird.
Vertreter der Deutschen AIDS-Hilfe und des JES-Bundesverbands erhielten die Chance auf Seiten der Patientenvertretung im GBA für patientenorientierte Rahmenbedingungen der Diamorphinbehandlung einzutreten. Die Enttäuschung war umso größer als knapp ein Jahr später die Richtlinien des GBA bekannt wurden: Die Erstattungsfähigkeit der diamorphingestützten Substitutionsbehandlung durch die gesetzliche Krankenversicherung wurde an hohe Hürden geknüpft, die so vom Gesetzgeber nicht intendiert waren.

Einige Diskussionen im GBA erinnerten an ideologische Auseinandersetzungen, die bereits bei der Zulassung von Methadon zur   Behandlung der Opiatabhängigkeit geführt wurden. Wo sich ansonsten die Mitglieder des GKV-Spitzenverbands und Vertreter der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) erbittert streiten, herrschte in Sachen „Diamorphin“ seltene Harmonie.
Der GBA knüpfte die diamorphingestützte Behandlung an grundsätzlich drei ärztliche Vollzeitstellen – und dies unabhängig von der Patientenzahl. Nur der deutlichen Kritik von Fachverbänden, der Wissenschaft, den an der Modellphase beteiligten Städten und Patientenorganisationen war es zu verdanken, dass das hochschwellige Regelwerk des GBA, das über die Bedingungen der Modellphase hinausging, im Jahr 2013 endlich verändert wurde.

Denn die Auswirkungen dieser Richtlinien waren katastrophal. Es entstand keine neue Einrichtung zur Diamorphinbehandlung, da die durch die GBA Richtlinien verursachten Personalkosten, insbesondere zum Beginn der Behandlung mit geringen Patientenzahlen horrend und nicht refinanzierbar schienen. An dieser Stelle gilt es der vielfach gescholtenen damaligen Bundesdrogenbeauftragten Mechthild Dyckmans Dank auszusprechen. Ihre Mitarbeiter(innen) kritisierten bereits im Gemeinsamen Bundesausschuss jene Regelungen, die eher ideologisch geprägt waren, und zitierten unablässig die Ergebnisse des Studienberichts.

Heute, etwas mehr als ein Jahr nach der punktuellen Anpassung der Richtlinien sind 2 neue Ambulanzen in Berlin und Stuttgart entstanden. Dies ist ein erster Erfolg, garantiert aber keineswegs eine bedarfsgerechte Versorgung. Hier gilt es den Blick über die Richtlinien des GBA hinaus zu werfen.
Heute wird die Kritik an den Richtlinien von einigen Kritikern unablässig fortgeführt. Ja, natürlich sind die sicherheitstechnischen Anforderungen recht hoch und kostenintensiv, aber es gilt, sich den etwas tieferliegenden Gründen für die noch fehlende Ausweitung der Diamorphinbehandlung zuzuwenden. So ist insbesondere in Reihen der substituierenden Ärzte eine deutliche Zurückhaltung oder gar Ablehnung gegenüber der Diamorphinbehandlung zu spüren. Wie ein grippaler Infekt überträgt sich die vielfach unberechtigte Kritik auch auf bereits substituierte Patienten, die sich für die Substitution mit Diamorphin interessieren .

Das Beispiel Berlin zeigt, wie es anders gehen kann und wie eine offene und vorurteilsfreie Haltung eine Situation grundlegend verändern kann. Hier gibt es einen jungen, engagierten Arzt, der von dieser Behandlungsform vollständig überzeugt ist. Ihm gelingt es mit seiner sympathischen und fachlichen Art ein Praxisteam zu bilden, das den Patienten und der Behandlungsform vorbehaltlos gegenübertritt. Mit ersten Behandlungserfolgen vollzieht sich auch innerhalb der Berliner Drogenszene und unter denjenigen, die bereits mit Methadon und anderen Medikamenten behandelt werden, eine spürbare Veränderung. Mythen und Halbwahrheiten wichen tatsächlichen und sichtbaren Behandlungserfolgen. Patienten sind sicherlich die wichtigsten Multiplikatoren, die ihre Erfahrungen an andere Opiatabhängige und Substituierte weitergeben. Die Folge sind lange Wartelisten zur Aufnahme in die Behandlung anstatt leerer Plätze.

Natürlich trug die Investitionsbeihilfe des Berliner Senats dazu bei, ein beispielhaftes Praxisambiente zu schaffen, aber dies ist nicht entscheidend für die Wartelisten und sehr zufriedene Patienten. Grundlage sind vielmehr beeindruckende Behandlungserfolge, die durch einen verbesserten Gesundheitszustand, eine Stabilisierung der sozialen Situation, sowie einer Steigerung der Lebensqualität zum Ausdruck kommen.
Um die Diamorphinbehandlung auf viele andere Städte auszuweiten, gilt es von der Behandlung überzeugte Ärzte zu finden, die wie andere Ärzte, die eine eigene Praxis eröffnen wollen, bereit sind ein finanzielles Risiko (das aber mit der langfristigen Behandlungsperspektive überschaubar scheint) einzugehen. Sie müssen mit ihrer Überzeugungskraft die Kommune oder das Land dafür gewinnen, eine einmalige Investitionsbeihilfe bereitzustellen.
Wir müssen uns aber auch die Frage stellen „was ist eigentlich der Unterschied zwischen Methadon und Diamorphin?“ Denn während die übliche Substitutionsbehandlung in der ärztlichen Praxis mit teilweise sehr geringen Sicherheitsstandards durchgeführt wird, werden für die Diamorphinbehandlung Sicherheitsstandards vorgeschrieben, die eine Kostenexplosion zur Folge haben und Experten völlig unangemessen erscheinen.
Wie z. B Methadon ist Diamorphin für opiatnaive Personen bereits in geringer Dosierung tödlich. Für opiatgewöhnte Personen hingegen sind beide Substanzen bei entsprechender Dosierung nicht lebensbedrohlich. Was sind also die Gründe, die die völlig unterschiedlichen Sicherheitsstandards insbesondere bei der Vergabe rechtfertigen? Sind es vielmehr die Mythen, die sich um Heroin als sofort abhängig machende oder gar tödliche Substanz ranken? Ist es die spürbare Ablehnung von Heroin (Diamorphin) als Medikament in Teilen der Politik, der Krankenkassen und der Medizin, das nun auch noch von den Krankenkassen zur Behandlung der Opiatabhängigkeit finanziert werden soll? Die Vorbehalte gegen diese Behandlung, die sich unter anderen in Slogans ausdrücken wie „Drogen auf Staatskosten“, „Suchtverlängerung“ und „das Ende der Abstinenz“ machen die fehlende Akzeptanz dieser Behandlungsform mehr als deutlich.

Was wird also benötigt, um die diamorphingestützte Substitutionsbehandlung all jenen zur Verfügung zu stellen, die sich für diese Behandlung entscheiden?
– Eine Bewertung der Behandlung durch Lobbygruppen, Medizinern und Politikern, die sich an den tatsächlichen Behandlungsergebnissen orientiert und nicht moralische oder ideologische Grundlagen hat,
– eine Überprüfung der GBA-Richtlinien auf Grundlage medizinisch-wissenschaftlicher Erkenntnisse, Praxiskompatibilität und Patientenorientierung,
– eine kritische Überprüfung und Weiterentwicklung der Sicherheitsstandards und
– die Zulassung weiterer Darreichungsformen wie z.B. Tabletten sowie die Zulassung von weiteren Applikationsformen (z.B. oral, subkutan)

Insbesondere gilt aber, dass all jene zusammenstehen, die diese Behandlungsform positiv bewerten, weil sie als Ärzte und Patienten, als Wissenschaftler und Politiker die gesundheitlichen und sozialen Effekte sehen und dazu beitragen wollen, dass jeder Opiatkonsument und jede Opiatkonsumentin, die die Diamorphinbehandlung für sich als Weg wählen, eine Behandlungsmöglichkeit erhalten.

Drug-Checking

Von Rüdiger Schmolke und Tibor Harrach

Drug-Checking ist eine Strategie der Schadensminderung beim Drogenkonsum und Prävention von konsumbezogenen Problemen, die sich in mehreren europäischen Ländern etabliert und ihre Effektivität erwiesen hat. Beim Drug-Checking erhalten zum Konsum entschlossene Besitzer/innen illegal gehandelter Substanzen die Möglichkeit, diese vor Ort (zum Beispiel im Rahmen einer TechnoParty, möglicherweise auch in einem Drogenkonsumraum) oder durch Weitergabe an ein stationäres Labor analysieren zu lassen. Dabei wird mittels instrumenteller Analytik, in der Regel HPLC oder Massenspektroskopie, die Identität und der Gehalt der psychotropen Wirkstoffe bestimmt. Die Substanzanalyse dient beim Drug-Checking dem Ziel, Konsument/innen vor gesundheitlichen Schäden durch ungewollte Überdosierungen, unerwartete psychoaktive Substanzen und gesundheitsgefährdende Verunreinigungen zu schützen.
Durch eine mit der Substanzanalyse verbundene Beratung über das Risiko des Konsums auf Basis des Testergebnisses fördert Drug-Checking auch die Entwicklung eines individuellen Risikomanagements der Konsument/innen. Drug-Checking trägt auch hierdurch dazu bei, vermeidbaren Schädigungen durch Drogenkonsum vorzubeugen.

Drug-Checking stellt keine Konkurrenz, sondern eine sinnvolle Ergänzung zu anderen (sucht)präventiven und helfenden Maßnahmen der Drogenarbeit dar. Erfahrungen der Drug-Checking-Angebote in anderen Ländern zeigen dabei deutlich, dass Drug-Checking ein Präventionsund Beratungsangebot auch für bislang nicht durch das etablierte Präventionsund Hilfesystem erreichte Konsumierende darstellt.
Gegen das 1995/96 von Eve & Rave Berlin e.V. ohne jede staatliche Unterstützung durchgeführte Drug-Checking-Angebot ging die Berliner Staatsanwaltschaft vor. Obwohl das Berliner Landgericht die Klage abwies und im Drug-Checking von Eve & Rave keine Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz sah, konnte das Programm nicht wieder aufgenommen werden. Danach ist es in Deutschland nicht mehr gelungen, wieder ein DrugChecking-Angebot zu implementieren, das ähnlich differenzierte und valide Substanzanalysen ermöglicht wie die inzwischen in den Niederlanden, der Schweiz, Österreich, Spanien und Portugal etablierten Angebote. 50

In Deutschland führen heute Szeneinitiativen Schnelltests durch, z. B. mit Marquis-Reagenzlösung. Schnelltests erlauben durch eine Farbreaktion bestimmte Wirkstoffgruppen zu identifizieren. Jedoch werden weder Verunreinigungen erkannt, noch können quantitative Aussagen gemacht werden. Durch das Angebot kommen Akteure aus den Initiativen aber mit Konsument/innen ins Gespräch und können sie über allgemeine Konsumrisiken aufklären und für spezielle Risiken sensibilisieren, die durch den Konsum von nicht analysierten Substanzen ausgehen.

Ein Antrag der Bundestagsfraktion von Bündnis`90/Die Grünen, „…ein wissenschaftlich begleitetes und multizentrisches Modellprojekt aufzulegen, das Wirkungen, geeignete Akteure und strukturelle Voraussetzungen der stationären und mobilen Substanzanalyse untersucht [sowie] Rechtssicherheit für die Substanzanalyse zu schaffen, bei den Ländern auf die Unterstützung von Angeboten der Substanzanalyse hinzuwirken“, 51 wurde mit Stimmen der Regierungsfraktionen aus CDU/CSU und FDP sowie der SPD im Jahr 2012 abgelehnt. 52
Die Schaffung eines Drug-Checking-Angebots ist in Deutschland jedoch auch unter den gegebenen gesetzlichen Bedingungen möglich, indem
‐ nach Antrag das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) zu „wissenschaftlichen oder anderen im öffentlichen Interesse liegenden Zwecken“ eine Ausnahmegenehmigung nach § 3 (2) BtMG erteilt oder ‐ eine Landesregierung analog dem „Frankfurter Konsumraummodell“ auf Grundlage eines Umsetzungskonzepts und gestützt durch Rechtsgutachten eine Absprache zwischen Strafverfolgungsbehörden und Betreibern des Drug-Checking-Angebots erwirkt, die letzteren Rechtssicherheit bei der Durchführung gibt und/oder
‐ Öffentliche Apotheken und KrankenhausApotheken (gemäß § 4 BtMG) Betäubungsmittel ohne weitere Erlaubnis entgegennehmen und zur Untersuchung weiterleiten.

Zwar arbeiten die amtierenden Landesregierungen in Schleswig-Holstein (SPD-GrüneSSW), Hessen (CDU-Grüne) und Berlin (SPDCDU) auf Grundlage von Koalitionsverträgen, die die Einführung eines Drug-CheckingModellprojekts vorsehen. Ernsthafte Schritte zur Schaffung eines Drug-Checking-Angebots wurden jedoch von keiner Landesregierung unternommen. Bei Nachfragen wird regelmäßig auf die fehlende Unterstützung der Bundesregierung verwiesen.
Drug-Checking fördert die Gesundheit von (potenziellen) Drogengebraucher/innen. Seine Praktikabilität und Effektivität ist hinreichend erwiesen. Es ist überfällig, dass Drogenpolitiker/innen in Bund und Ländern ihre Verantwortung wahrnehmen und ein Drug-Checking-Modellprojekt initiieren.

50 Drug-Checking-Projekte aus mehreren europäischen Ländern arbeiten inzwischen auch im Projekt Trans European Drug Information (TEDI) zusammen, siehe www.tedi-project.org.
51 Bundestags-Drucksache 17/2050, http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/17/020/170 2050.pdf
52 In der Anhörung des Gesundheitsausschusses des Deutschen Bundestags am 28.09.2011 hatten sich neben den meisten Einzelsachverständigen auch alle Fachverbände im Drogenhilfebereich sowie der Deutsche Städtetag für die Initiierung eines DrugChecking-Modellprojekts ausgesprochen.

Information statt Vorurteile! – Das Drogeninfo-Projekt Drug Scouts aus Leipzig

Von Daniel Graubaum, Antje Kettner und Henning Arndt

Laut Deutscher Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht [DBDD] haben hierzulande fast alle Menschen zwischen 18 und 26 Jahren mit Alkohol experimentiert sowie etwa die Hälfte aller jungen Männer und mehr als ein Drittel der jungen Frauen Erfahrungen mit illegalisierten Substanzen 42 . Vor allem junge Menschen probieren psychoaktive Substanzen aus und/oder konsumieren diese über einen gewissen Zeitraum, meist ohne dabei eine Abhängigkeit zu entwickeln. Die Bandbreite an Konsumformen, -dauern und –häufigkeiten ist dabei sehr groß. Drogenkonsum im Jugendalter erfüllt für Konsument_innen sehr unterschiedliche Funktionen, die mit verschiedenen Entwicklungsaufgaben von Heranwachsenden in Beziehung stehen 43 . Neben den allgemeinen Konsummotiven 44 und -trends 45 unter jungen Menschen ist bekannt, dass die Drogenaffinität in bestimmten Subkulturen höher ist als in anderen; so werden z.B. in der Szene elektronischer Tanzmusik häufiger illegale Drogen konsumiert als in der Durchschnittsbevölkerung

Drug Scouts – Anliegen
Drug Scouts wurde 1996 von jungen Menschen aus der elektronischen Musikund Partyszene auf rein ehrenamtlicher Basis gegründet. Die Arbeit konzentrierte sich vor allem darauf, Partygäste über Drogen aufzuklären und für einen weniger riskanten Umgang mit Drogen zu sensibilisieren. Seit 1998 ist das Projekt bei dem Träger SZL Suchtzentrum gGmbH angesiedelt und wird hauptsächlich durch das Leipziger Amt für Jugend, Familie und Bildung für seine Arbeit im Leipziger Stadtgebiet finanziert. Derzeit arbeiten drei hauptamtliche Sozialarbeiter/ innen (auf 1,8 Vollzeitstellen) und über 40 Ehrenamtliche im Projekt. Die Angebote richten sich hauptsächlich an junge Menschen zwischen 18 und 26 Jahren, die legale und/ oder illegalisierte Drogen konsumieren sowie an Angehörige und Multiplikator/innen (Lehrer/innen, Sozialpädagog/innen, Clubpersonal, Peers etc.).

Erklärtes Ziel des Projektes ist es, junge Menschen dabei zu unterstützen, einen kompetenten und kritischen Umgang mit legalen und illegalisierten Substanzen zu erlernen, um somatische, psychische und soziale Schädigungen zu verhindern bzw. zu minimieren. Besonderes Augenmerk liegt dabei im Rahmen selektiver Prävention auf der Gruppe der Partygänger/innen und damit verbunden der Vermittlung und Etablierung risikominimierender Maßnahmen in der Partyszene. Laut dem Bericht der DBDD 2013 sind hier besonders „die Lebenswelten der Jugendlichen zu berücksichtigen und die Aktivitäten nicht nur auf Konsumverzicht oder Konsumreduktion auszurichten […], sondern darüber hinaus Fähigkeiten wie Risikokompetenz und Risikomanagement“ zu vermitteln 46 .

Konkret geht es darum, für kurzfristige, punktuelle Risiken des Konsums (Überdosierung, Ansteckung mit Infektionskrankheiten durch gemeinsam benutzte Konsumutensilien, Hörschäden auf Partys etc.) zu sensibilisieren. Durch Aufklärung über langfristige Konsumrisiken (körperliche und psychische Folgen, Toleranzentwicklung, Abhängigkeit) und die Vermittlung von Risikokompetenz (u.a. konsequente Punktnüchternheit, ritualisierte Formen des nicht schädlichen Umgangs) soll dazu beigetragen werden, dass junge Menschen ihren Konsum kritisch reflektieren, Warnsignale eines problematischen Konsums erkennen und Hilfebedarf möglichst frühzeitig äußern.

Drug Scouts – Angebote
• Drogeninformationsladen mit Möglichkeit zu anonymen Beratungsgesprächen, Telefonberatung, Weitervermittlung an weiterführende Hilfen, Präsenzbibliothek zu Drogenthemen und Internetrechercheplätzen
• Vor-Ort-Arbeit auf Partys und Festivals (Aufklärung von Partybesucher/innen über Drogenkonsum und damit verbundene Risiken sowie über Maßnahmen zur Risikound Schadensminimierung, z.T. Betreuung in Notfallsituationen)
• Webseite http://drugscouts.de mit Drogenlexikon, Safer-Use-Hinweisen, Substanzwarnungen, Online-Beratung, Userforum für Erfahrungsberichte, News zu Drogenthemen etc.
• eigene Faltblätter und Broschüren zu psychoaktiven Substanzen und drogenbezogenen Themen (z.B. Erste Hilfe im Drogennotfall, Führerschein und Drogen, Partydrogen, neue psychoaktive Substanzen (NPS), Drug Checking, Konsumreflexion)
• Durchführung von Präventionsveranstaltungen, Workshops und Vorträgen zu verschiedenen Themen (z.B. 1. Hilfe im Drogennotfall, Drogenkonsum in Jugendszenen, Substanzkunde, Schadensminimierung im Partybereich).

Best Practice – warum?
Kennzeichnend für das Projekt Drug Scouts ist das Vertrauen und die Glaubwürdigkeit, die es bei der Zielgruppe genießt. Grundlage dafür ist die Akzeptanz jugendlicher Lebenswelten und der spezifischen Lebenslage des einzelnen Individuums. Die Anliegen und Bedürfnisse junger Menschen werden ernst genommen, ohne sie moralisch zu bewerten.
Ihnen wird zugestanden, eigene Entscheidungen zu treffen und in Handeln umzusetzen sowie Hilfsbedarf zu artikulieren und Unterstützungsangebote nach eigenem Ermessen zu nutzen. Niedrigschwelligkeit, Zieloffenheit, Empowerment und die Arbeit mit Peers bilden also die methodischen Grundlagen unserer Arbeit. Dass dieser Ansatz von Konsument/innen hoch geschätzt wird, zeigen aktuelle Studienergebnisse. 47

28.000 verteilte Faltblätter, 5.450 ausgegebene Safer-Use-Materialien (u.a. Ohrstöpsel, Kondome, Ziehröhrchen, Aktivkohlefilter, Dosierhilfen für flüssige Substanzen), 20 zum Teil mehrtägige Infostände auf Partys und Festivals bundesweit (inkl. Betreuung in Krisensituationen), 1,1 Millionen Besucher/ innen auf http://drugscouts.de im Jahr 2013, die Nutzung der Möglichkeit, Erfahrungsberichte zu schreiben und zu kommentieren, sowie persönliches Feedback von jungen Nutzer/innen unserer Angebote bestärken uns in unserem Ansatz und unserer Arbeit. Ein wichtiger Arbeitsbereich sind Workshopangebote und Schulungen für Partygäste, Partyveranstalter/innen sowie Clubpersonal. Neben der Präsenz mit Infoständen vor Ort ist uns wichtig, Clubpersonal und Partygäste für Safer-Clubbing-Aspekte zu sensibilisieren und in ihren Ressourcen und Kompetenzen zu fördern. Hier sind vor allem Schulungen zum (Misch)Konsum von Alkohol und anderen Drogen, Safer-Use-Maßnahmen sowie zum Umgang mit Notfallund Krisensituationen im Partykontext zu erwähnen, für 2013 besonders auch die Workshops zu GHB/GBLKonsum und zu Übergriffigkeit im Nachtleben. Auch von fachlicher Seite werden unser Ansatz und unsere Erfahrungen geschätzt. So erhielten wir in den letzten Jahren Einladungen zu Vorträgen (u.a. Crystal [Gesundheitsamt Leipzig], Neue psychoaktive Substanzen [Landesstelle für Suchtfragen MecklenburgVorpommern e.V.], Prävention und Schadensminimierung im Partysetting [DHS]) und Fachgesprächen („Prävention des Mischkonsums von Alkohol und illegalen Drogen im Nachtleben“ [Bundesministerium für Gesundheit] und öffentliche Anhörungen („Drug Checking“ im Bundestag).

Was wünschen wir uns von der Drogenpolitik der Regierungen von Bund und Ländern?
Trotz unserer Erfahrungen, dass Prävention mit einem akzeptierenden und auf Risikominimierung abzielenden Ansatz sinnvoll ist und von Usern angenommen wird, gibt es bundesweit leider nur wenige andere akzeptierende Projekte, die gefördert werden. Die hohe Nachfrage aus dem gesamten Bundesgebiet nach unseren Angeboten zeigt mehr als deutlich, dass der Bedarf an solchen bei weitem noch nicht gedeckt ist. Hier ist ein Ausbau dringend von Nöten. Die Amphetaminund Crystal-Studie des ZiS empfiehlt hierzu „akzeptierende Projekte und Beratungsangebote im Sinne einer Optimierung von Maßnahmen unmittelbar und zeitnah bedarfsgerecht zu unterstützen“ 48 . Hierbei sollten Erfahrungen und Anliegen von Usern ernst genommen und in die Angebotsgestaltung einbezogen werden.

Vor allem in der Vor-Ort-Arbeit, aber auch in der Mailund Telefonberatung erreichen uns immer wieder Anfragen zu Möglichkeiten, Substanzen auf ihre Inhaltsstoffe testen zu lassen. Auch die Auswertung unserer Webstatistik zeigt, dass im letzten Jahr 30% aller Zugriffe auf http://drugscouts.de im Zusammenhang mit den dort veröffentlichten Substanzwarnungen (vornehmlich aus Österreich und der Schweiz) erfolgten. Vor diesem Hintergrund fordern wir dringend die Einrichtung von Drug-Checking-Angeboten und deren Verankerung in den Bereichen der Prävention und Schadensminimierung. Detaillierte Substanztests in Laboren, verbunden mit Reflexionsgesprächen zwischen User und Berater/in sowie der Veröffentlichung von Substanzwarnungen, können Konsumentscheidungen beeinflussen, explizit zur Gesundheitsförderung beitragen und werden auch von Drogenkonsument/innen, vielen Angehörigen und Fachleuten ausdrücklich gewünscht. 49

Noch sind bundesdeutsche Drug-CheckingAngebote Zukunftsvisionen, denn der Wortlaut des Betäubungsmittelgesetzes erlaubt es Harm-Reduction-Projekten nicht ausdrücklich, illegalisierte Substanzen zu Testzwecken entgegen zu nehmen. Hier ist eine Gesetzesänderung auf Bundesebene notwendig. Des Weiteren lässt die Umsetzung bereits konzipierter regionaler Modellprojekte auf sich warten, da deren Einrichtung bisher bloße Absichtsbekundungen in einzelnen Landeskoalitionsvereinbarungen sind.

Aus unserer Sicht ist es dringend wünschenswert, dass Polizei und Bundespolizei Informationen über beschlagnahmte Substanzen und die darin ermittelten Wirkstoffkonzentrationen, Streckmittel sowie Beimengungen zeitnah veröffentlichen, damit frühzeitig auf verunreinigte, hochdosierte oder unerwartete Substanzen und deren Konsum reagiert werden kann.
Ein sinnvoller Schritt wäre auch, im Bereich der Strafverfolgung bundesweit einheitliche und nachvollziehbare Regelungen bezüglich sogenannter „geringer Mengen“ für den Besitz von Substanzen, die dem BtMG unterstellt sind, und bezüglich der Fahrtüchtigkeit bzw. dem Entzug der Fahrerlaubnis nach deren Konsum oder Besitz einzuführen, um so Rechtssicherheit für User zu schaffen.
Des Weiteren erachten wir eine ausgewogenere Vier-Säulen-Politik im Drogenund Suchtbereich hin zu einem stärkeren Ausbau von Angeboten zu Aufklärung, Prävention, Schadensminimierung, Beratung und Therapie für sinnvoll und notwendig.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es nicht nur einer besseren Finanzierung der gesamten Strukturen der akzeptierenden Drogenhilfe bedarf, sondern auch Änderungen der gesetzlichen Grundlagen. Denn diese bebzw. verhindern momentan noch effiziente und bedarfsorientierte Angebote für junge Drogengebraucher/innen.

42 DBDD (2010): Bericht 2010 des nationalen REITOX-Knotenpunktes an die EBDD. DBDD, München
43 vgl. Settertobulte, W. (2011): Rausch als Risiko und herausforderung für Jugendliche http://www.jugendschutzniedersachsen.de/wordpress/wpcontent/uploads/2010/10/Settertobulte-RisikoHerausforderung.pdf
44 FOKUS-Institut Halle (2009): Moderne Drogenund Suchtprävention (MODRUS IV) http://www.fokus institut.org/PosterMODRUSIV_Endfassung.pdf
45 DBDD (2013): Bericht 2013 des nationalen REITOX-Knotenpunktes an die EBDD. DBDD, München
46 ebd., S.101
47 Eine Reihe von so genannten „Partyprojekten“, Online-Kommunikationsportalen und niedrigschwelligen Beratungseinrichtungen, von denen einige die vorliegende Studie unterstützt haben, engagiert sich im Bereich der Wissensvermittlung. […] Diese Akteure verfolgen durchweg einen akzeptierenden und auf Risikominimierung („Safer Use“) abzielenden Ansatz. Anhand der Befunde aus allen drei Modulen der vorliegenden Studie zeigt sich, dass sie aus Sicht von Konsumenten eine besondere Glaubwürdigkeit aufweisen und hohe Akzeptanz genießen (vgl. 7.11.2, 7.15.1) und dass „Safer Use“-Ansätze eine wichtige Möglichkeit darstellen, um Konsumenten zu erreichen (vgl. Kap. 7.11.4.4).“ Milin, S./Lotzin, A./ Degkwitz, P./ Verthein, U./ Schäfer, I. (2014): Amphetamin und Methamphetamin – Personengruppen mit missbräuchlichem Konsum und Ansatzpunkte für präventive Maßnahmen: Zentrum für Interdisziplinäre Suchtforschung (ZIS) der Universität Hamburg, Hamburg, S. 76
48 Ebd., S.78
49 Stadt Zürich – Sozialdepartment: Zehn Jahre mobiles Drug Checking und saferparty.ch, Zürich 2011, http://www.stadtzuerich.ch/content/sd/de/index/ueber_das_departe ment/medien/medienmitteilungen_aktuell/2011/okt ober/111019a.html

Prävention weiter denken

C 1-4
Florian Schulze

Prävention weiter denken

Der Konsum von Rauschmitteln, gleichgültig ob legal oder illegal, hat vielfältige Ursachen. Aus gesellschaftlichen, sozialen und individuellen Einflussfaktoren resultiert eine mehr oder weniger ausgeprägte Affinität zu künstlich hervorgerufenen positiven Gefühlen und veränderter Wahrnehmung. Diese steht in einem bestimmten Verhältnis zur Risikobereitschaft, die von ebenso vielen Determinanten beeinflusst wird.

Das Abstinenzdogma schadet
Die klassische Drogenprävention vermittelt in Umsetzung der politischen Null-Toleranz-Strategie das Bild von der ausschließlich zerstörerischen Droge, häufig gepaart mit abschreckenden Beispielen zerrütteter Existenzen. Momentan werden etwa gerne VorherNachher-Bilder von Crystal-Konsumierenden verwendet (vgl. auch Barsch in diesem Band). In der Regel wird die große Anziehungskraft, die Drogen auf einige Menschen ausüben, kaum thematisiert – geschweige denn, wie man mit dieser Anziehungskraft umgehen kann. Es wird auf die eine Seite der Medaille, die Risikobereitschaft, abgestellt, und zwar unabhängig vom tatsächlichen Schadenspotenzial der einzelnen Drogen. Häufig gibt es nur „die Drogen“, so wie es das Betäubungsmittelgesetz auch vorsieht. Wie zynisch müssen diese Darstellungen auf Jugendliche wirken, deren Eltern sich mit 5€-Schnaps legal in die Abhängigkeit getrunken haben.

Gerade in Deutschland wird zu wenig zwischen risikoarmem und riskantem Konsum unterschieden jedenfalls bei illegalisierten Rauschmitteln. Jemand, der auf einem Festival zur Ecstasy-Dosis greift, wird rechtlich und gesellschaftlich in einen Topf geworfen mit dem Crystal-Abhängigen. Dabei haben die beiden Konsumierenden, was Gefährdung, Konsummotivation und Hilfebedürftigkeit angeht, nur wenig gemeinsam. Man kann in diesem Zusammenhang darüber diskutieren, ob risikoarmem Konsum überhaupt vorgebeugt werden muss.
Es verwundert nicht, dass die Null-ToleranzPrävention nur wenig Wirkung zeigt. Zu sehr ignoriert sie nicht nur die Lebensrealität von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, sondern auch medizinisch-wissenschaftliche Daten und Erkenntnisse aus der Public-Health-Wissenschaft zur Wirksamkeit von Maßnahmen der Gesundheitsförderung.
Daran wird auch deutlich, dass es bei Abstinenz-Belehrungen nicht darum geht, Menschen zu befähigen, sondern darum, dass sie gehorsam sind. Sie sollen vor sich selbst geschützt werden, denn man traut ihnen nicht zu, selbstbestimmt verantwortlich zu handeln. Der erhobene Zeigefinger und die simplen Vorschriften für den „korrekten“ Umgang mit Drogen zeugen von einem Menschenbild, das eher ins neuzehnte als ins einundzwanzigste Jahrhundert gehört.

Das alte erzieherische Verständnis wurde mittlerweile in der praktischen Präventionsarbeit zum Teil von der Wirklichkeit überholt. Doch ähnlich wie etwa bei Substitutionsbehandlungen wirken akzeptierende Ansätze trotz und nicht wegen des Betäubungsmittelrechts und die Handelnden stehen teils in Gefahr, sich strafbar oder zumindest bei ihren Trägern sehr unbeliebt zu machen (siehe u.a. Ullmann in diesem Band). Ebenso wie Ärztinnen und Ärzte von Rechts wegen zum Teil internationale Leitlinien missachten müssen, wird es Menschen in der Prävention schwer gemacht, die Erkenntnisse der Public-HealthWissenschaft anzuwenden. Hier müsste die Förderung gesundheitlicher Ressourcen, drogenbezogen etwa die Förderung der Konsum-kompetenz, weit oben auf der To-do-Liste stehen.
Ohne Partizipation der Betroffenen und letztlich eine gemeinsame individuelle Entscheidungsfindung findet Präventionsarbeit nur wenig Akzeptanz. Das stört viele politisch Verantwortliche kaum, können sie doch mit ihren Kampagnen allen zeigen, wie „ernst“ sie den Kampf gegen die Drogen nehmen.

Konsumierende verstehen
Voraussetzung für eine wirksame Präventionsarbeit ist das Verständnis davon, warum jemand zu berauschenden Mitteln greift und bereit ist, dafür gesundheitliche Risiken in Kauf zu nehmen. Doch gerade die Konsummotivation und ihre Einflussfaktoren sind für viele Konsumentenund Substanzgruppen nur unzureichend untersucht. Sicherlich ist der Ausdruck „Man hat nicht das Problem wegen der Droge, sondern nimmt die Droge wegen des Problems“ zu kategorisch gedacht. Trotzdem lohnt es sich, das vorherrschende Verständnis von Ursache und Wirkung einmal umzudrehen und mit der Präventionsarbeit dort zu beginnen, wo der Wunsch nach Realitätsflucht als Problemlösungsstrategie entsteht. Wir wissen, dass sehr viele Menschen mit einer Suchterkrankung eine psychiatrische Ko-Erkrankung aufweisen. Bekannt ist auch etwa der hohe Anteil an Frauen, die vor ihrer Suchterkrankung durch sexualisierte Gewalt traumatisiert worden sind. Das macht deutlich, dass gute Drogenprävention im Rahmen einer Gesundheitsförderungsstrategie auch die Ursachen problematischen Drogenkonsums verstehen und angehen muss. Sicher entziehen sich viele individuelle Probleme der direkten politischen Beeinflussung. Aber umgekehrt müssen politische Maßnahmen auf ihre Auswirkungen auf Gesundheitschancen, auch in Bezug auf Schädigungen durch Substanzkonsum hin überprüft werden.

Drogenbezogene Probleme sind nicht allein innerhalb der Drogenpolitik lösbar Nur wer abstinent ist oder die Abstinenz anstrebt, verdient gesellschaftlichen Rückhalt – so die Botschaft, die sich wie ein roter Faden durch die Drogenpolitik der letzten Bundesregierungen zieht, nicht nur in der offiziellen Präventionsstrategie. Einige weitere Beispiele: Therapien müssen laut Gesetz bzw. Verordnung vorwiegend das Abstinenzziel verfolgen und damit zum Teil medizinische Leitlinien missachten. Konsumierende von sogenannten „harten Drogen“ werden grundsätzlich als charakterlich ungeeignet zum Führen eines Fahrzeugs angesehen – im   Gegensatz zum Umgang mit Alkoholsündern unabhängig davon, ob die Verkehrssicherheit tatsächlich gefährdet wurde (siehe Pütz in diesem Band). Wer durch schlechte Drogenqualität zu Schaden kommt, ist nach konservativer Logik selbst schuld, denn nur abstinente oder wenigstens alkoholkonsumierende Menschen verdienen einen Verbraucheroder Jugendschutz.

Der Konsum illegalisierter Drogen stellt nach vorherrschender Sicht vorwiegend ein gravierendes persönliches Versagen dar. Diese Herangehensweise widerspricht allen wissenschaftlichen Erkenntnissen, wonach der Konsum und die Abhängigkeit von Substanzen von einer Vielzahl gesellschaftlicher, sozialer und nicht zuletzt biologischer Faktoren abhängen. Sie ermöglicht es der Politik allerdings, eine Mitverantwortung für drogenbezogene Probleme von sich zu weisen. Stattdessen kauft sie sich mit „Aufklärungskampagnen“ und anderen Feigenblättern frei von ihrer Aufgabe, für gesundheitsförderliche Lebenswelten Sorge zu tragen. Drogenprävention im politischen Sinn darf nicht dabei stehen bleiben, die sozialen Auswirkungen anderer Politikfelder abzufedern.

Vielmehr spielt der salutogenetische Ansatz eine entscheidende Rolle: Welche Anforderungen stellt das Leben an mich und welche Lösungsressourcen stehen mir zur Verfügung? Aufgabe guter Gesundheitsförderung ist es, diese gegenläufigen Größen in ein „gesundes“ Verhältnis zueinander stellen. Nur so werden tatsächlich die Ursachen von problematischem Drogenkonsum angegangen und zugleich die Ursachen anderer vermeidbarer Krankheiten. Der Erhalt von Gesundheit als psychisches, physisches und soziales Wohlbefinden (Definition der Weltgesundheitsorganisation) ist der Schlüssel dafür, drogenbedingte Probleme zu vermeiden. Drogenkonsum als individuelles Defizit zu begreifen und gesetzlich zu verbieten, zeugt auch unter diesem Gesichtspunkt von bemerkenswerter Kurzsichtigkeit.

Letztlich muss es bei erfolgreicher Prävention (um bei dem drogenpolitisch gebräuchlichen Begriff zu bleiben) um die Förderung von 61  Lebenskompetenzen und Gewährleistung von Teilhabechancen gehen. Auch hier greift der paternalistische „Du sollst“-Ansatz nicht. Teilhabe und selbstbestimmtes Leben sind vor allem durch gute und gleiche Chancen etwa in Bildung, Gesundheit und gesellschaftlicher Mitbestimmung zu erreichen. Nur wer sein Leben und seine Umwelt als gestaltbar erlebt, wird Rauschmittel nicht als Problemlösung missverstehen und entsprechend mit diesen umgehen können. Dass etwa Bildungsund Gesundheitschancen und auch Drogenkonsum häufig entscheidend vom Sozialstatus abhängen, ist wissenschaftlich unumstritten. Viele Untersuchungen deuten darauf hin, dass der Weg zu mehr Chancengleichheit effektiv nur über mehr Verteilungsgerechtigkeit zu erreichen ist. Daher ist Drogenprävention – wie andere Maßnahmen der Gesundheitsförderung – hochpolitisch. Vielleicht fällt es vielen politischen Akteuren deshalb so schwer, die gesellschaftliche und wissenschaftliche Realität zur Kenntnis zu nehmen. Drogenkonsum ist immer auch ein Spiegel der Gesellschaft. Es ist kein Zufall, dass in unserer Leistungsgesellschaft die Tendenz weg von Opiaten hin zu aufputschenden und stimulierenden Substanzen geht. Auch dass etwa in Griechenland im Zuge der Staatskrise der Drogenkonsum massiv angestiegen ist, verwundert nicht. Warum fällt aber die Einsicht so schwer, dass eben nur gesellschaftliche Veränderungen effektiv das DrogenKonsumverhalten verändern können? Drogenprävention im politischen Sinn darf nicht dabei stehen bleiben, die sozialen Auswirkungen anderer Politikfelder abzufedern.

Hepatitis C und Drogengebrauch – über das Fehlen einer nationalen Strategie gegen Virushepatitis in Deutschland

Von Heino Stöver, Dirk Schäffer und Astrid Leicht

Die Virushepatitis ist laut WHO ein „weltweit bedeutendes Gesundheitsproblem“ (63. Weltgesundheitsversammlung der WHO 2010), Regierungen werden aufgefordert, multisektorielle nationale Strategien zur Prävention, Diagnostik und Behandlung von viralen Hepatitiden zu entwickeln und umzusetzen – basierend auf dem lokalen epidemiologischen Kontext (Global Commission on Drug Policy 2013; WHO 2014). Etwa 2 – 3 % der Weltbevölkerung (130 – 170 Millionen) hatte Kontakt mit dem Hepatitis-C-Virus (HCV). Hepatitis C breitete sich weltweit im 20. Jahrhundert insbesondere über eine parenterale Übertragung über die Ausbreitungswege „unsterile Injektionsutensilien“ und „injizierenden Drogenkonsum“ aus.

Auch in Deutschland sind ca. eine Million Menschen von einer chronischen Virushepatitis betroffen: 500.000 Menschen mit dem Hepatitis B(HBV), und fast ebenso viele mit dem Hepatitis C-Virus. Die jährlich an das RKI übermittelten HCV-Fälle bewegen sich über 5.000, die von HBV über 1.800 (RKI 2013, S. 262, 268). Die chronische Hepatitis C ist heutzutage der häufigste Grund für eine Lebertransplantation. Die Zahl der an den Folgen einer Virushepatitis verstorbenen Menschen ist hoch und wird in den nächsten Jahren massiv ansteigen.

Viele HBV/HCV-Infizierte wissen nichts von ihrer Infektion. Die Tatsache, dass viele Hepatitis Bund C-Infektionen unentdeckt bleiben, weil sie keine Symptome verursachen, verdeutlicht die Notwendigkeit, gezielt und verstärkt potentiell Betroffene zu informieren und den Zugang zur Testung, Impfung und Therapie der Virushepatitis zu verbessern (WHO 2013).

Neuinfektionen betreffen hauptsächlich intravenös Drogen applizierende Menschen. Bei mehr als der Hälfte der neu gemeldeten Fälle, bei denen Angaben zum möglichen Infektionsrisiko vorlagen, wurde intravenöser Drogenkonsum genannt. Unter intravenös Drogen Gebrauchenden ist die Hepatitis C Prävalenz mit 60 – 80% Hepatitis C-Antikörperprävalenz und über 40% chronischer Hepatitis CInfektion enorm hoch (RKI 2012). Dem steht eine sehr geringe Behandlungsquote gegenüber. Es bestehen immer noch eine Reihe von Barrieren und Vorbehalte gegenüber der Behandlung dieser Gruppe: die Angst vor ReInfizierungen, Annahmen geringer Compliance, Kostenargumente etc. Diese Barrieren müssen systematisch niedergerissen werden. Die Forschung hat gezeigt, dass die HCV-Behandlung – auch bei DrogengebraucherInnen – sicher und effektiv ist (Robaeys et al. 2013).

Darüber hinaus trägt eine erfolgreiche HCVBehandlung substanziell zur Steigerung der Lebensqualität bei (Grebely et al. 2013). Die noch vor einigen Jahren gestellte Frage: „Warum HCV-infizierte DrogenkonsumentInnen behandeln?“, muss umgekehrt werden in die Frage: „Warum erfolgt keine HCVBehandlung von injizierenden DrogenkonsumentInnen?“

Aktionsplan Virus-Hepatitis: Fehlanzeige in Deutschland
In Deutschland gelang es, auf der Grundlage eines nationalen HIV-/Aids-Aktionsplans der Bundesregierung die Inzidenz und Prävalenz von HIV bei DrogengebraucherInnen in den letzten 15 Jahren deutlich zu senken.

Im Gegensatz dazu blieben die Erfolge in der HCV-Prävention aus. Die höhere Infektiosität des Hepatitis C-Virus und die Vorbehalte der Medizin, Drogenabhängigen eine HCV-Therapie zu ermöglichen, sind dafür wesentliche Gründe. Umso wichtiger wäre eine abgestimmte nationale Strategie, die den politischen Willen, diese Situation zu verändern, deutlich macht und den Handlungsrahmen bietet. Andere europäische Länder (Frankreich, Schottland) haben schon seit vielen 57  Jahren Aktionspläne und können Erfolge in der Epidemiologie, Prävention und Therapie nachweisen. Die deutsche Politik hat offenbar vergeblich gehofft, über eine „HuckepackStrategie“ mit der HIV/AIDS-Bekämpfung auch Virushepatitiden angemessen und entsprechend bekämpfen zu können. Dies erweist sich als gesundheitspolitische Sackgasse.

Hepatitis C-Behandlung: der Quantensprung steht bevor
Neben verstärkten Anstrengungen, über zielgruppenahe Präventions-, Testund Beratungsangebote das Wissen bei DrogengebraucherInnen über Infektionswege und Möglichkeiten der Infektionsvermeidung detailliert zu informieren, muss es das vorrangige Ziel sein, das Instrument „Behandlung“ in einem solchen Umfang einzusetzen, dass es mittelfristig zu einer Reduzierung der Hepatitis CPrävalenz kommt.

Eine vielbeachtete Studie aus Großbritannien, der eine mathematische Modellrechnung zugrunde liegt, unterstreicht, dass die Prävalenz der Hepatitis C deutlich gesenkt werden kann: So kann mit einer Therapierate von jährlich 20 HCV-Therapien pro 1000 DrogengebraucherInnen innerhalb von 10 Jahren eine Reduzierung der Prävalenz um 30 Prozent erreicht werden (Martin et al. 2011). Dieses Ziel zu erreichen, ist durchaus realistisch und demnach äußerst erfolgversprechend.

Darüber hinaus hat die Hepatitis C-Behandlung mit dem Einsatz von Medikamenten, die direkt das Virus angreifen, einen Quantensprung vollzogen. Neben der Tatsache, dass die Rate der dauerhaften Viruselimination bei Genotyp 1 bei bis zu 90% liegt, wird die Therapiedauer auf 12 bzw. 24 Wochen gesenkt.

Diese verbesserten Behandlungsmöglichkeiten können ihre Wirkung nur entfalten, wenn es gelingt, Hepatologen und Gastroenterologen – also Ärzte, die die höchste Kompetenz in der Behandlung der HCV Therapie aufweisen – dazu zu bewegen, die Gruppe der Drogengebraucher/Innen zu behandeln. Ferner gilt es Suchtmediziner und aktuell substituierende Ärzte, die bereits DrogengebraucherInnen seit vielen Jahren zu ihren Patienten zählen, entsprechend fortzubilden, dass sie eine HCV Behandlung in hoher Qualität durchführen können.

Solange die Kriminalisierung Drogen Gebrauchender fortgesetzt wird und entsprechend DrogengebraucherInnen bis zu einem Viertel aller Inhaftierten ausmachen, wird die Situation in Haftanstalten eine besondere sein. Die beiden Interventionen „Spritzenvergabe“ und „Substitution“ sind seit mehr als 20 Jahren bekannte, evidenzbasierte und überaus erfolgreiche Strategien, um die HIV/AIDSund HCV-Ausbreitung in Freiheit einzudämmen. Im Setting „Haft“, in dem 15-20.000 Drogenabhängige leben (Stöver 2012), macht man davon keinen bzw. nur geringen Gebrauch. Nur wenige Zahlen verdeutlichen dies: in nur 0,5% aller Haftanstalten (um genau zu sein: in einer) erfolgt eine Infektionsprophylaxe einschließlich eines Spritzentausches, nur 10% aller inhaftierten Drogenkonsument/innen befinden sich in einem Opiatsubstitutionsprogramm (im Gegensatz zu 40 bis 50% in Freiheit).

Strategiegruppe „Virushepatitis“: Ein deutscher „Aktionsplan Virushepatitis“ liegt vor
Im Jahr 2011 haben sich das Aktionsbündnis „Hepatitis und Drogengebrauch“ (vertreten durch DAH, Akzept, JES, Bundesverband der Eltern und Angehörigen für akzeptierende Drogenarbeit, Deutsche Gesellschaft für Suchtmedizin), die Deutsche Leberhilfe und die Deutsche Leberstiftung zusammengefunden, um gemeinsam einen Aktionsplan für eine nationale Strategie gegen Virushepatitis in Deutschland“ zu entwerfen. Dieser wurde im Juli 2013 der Öffentlichkeit vorgestellt. Er dient als Grundlage zur Verbesserung der Situation HBV/HCV-Infizierter (Aktionsbündnis „Hepatitis und Drogengebrauch“ et al. 2013).
Den Aktionsplan haben die Fachund Betroffenenverbände „von unten“ entwickelt, weil eben nach über 20-jähriger Thematisierung der Verbreitung, Prävention und  Therapie der Virushepatitiden und der Einforderung einer erhöhten Aufmerksamkeit und zielgerichteter Aktivitäten wenig passiert ist. Zwar hat das Bundesministerium für Gesundheit für die Zielgruppe der i.v. DrogenkonsumentInnen beispielsweise mehrere Fachkonferenzen und ein Handbuch „Hepatitis C und Drogengebrauch“ (Aktionsbündnis 2013) finanziert, ohne allerdings die Versorgungsengpässe in Testung, Prävention, Beratung und Therapie substanziell anzugehen.

Der „Aktionsplan für eine nationale Strategie gegen Virushepatitis in Deutschland“ versteht sich als ein inhaltlicher Rahmen und eine Aufforderung an die Politik und Fachverwaltung, die Herausforderung „Virushepatitis“ anzunehmen. Vorrangig gilt es hierbei:
– die zielgruppenspezifische Information und Aufklärung zu intensivieren,
– szenenahe Beratungsund Testangebote zu erweitern,
– die Realisierung von HAV-/ HBV Impfkampagnen entsprechend der STIKO 41 Indikation und
– eine Strategie gegen Virushepatitis in das „Public-Health-Konzept“, als Teil einer sozialen und politischen Strategie, einzubinden.

Am Ende macht der Aktionsplan auch klare Angaben zur Umsetzung der Maßnahmen – angelehnt an Task-Force-Strukturen in den Ländern, in denen HCV-Bekämpfungspläne bereits erfolgreich durchgeführt wurden.

Im Laufe des Jahres 2014 sollte die Umsetzung des „Aktionsplans Virushepatitis“ Gestalt annehmen!

41 STIKO: ständige Impfkommission

Literatur
Aktionsbündnis „Hepatitis und Drogengebrauch (2013): Hepatitis C und Drogengebrauch. Grundlagen, Therapie, Prävention, Betreuung und Recht. Berlin 3. Auflage, http://www.akzept.org/hepatitis_c_fachtag/aktionsb undnis/pdf_13/handbuch_hepatitis_280613.pdf
Aktionsbündnis „Hepatitis und Drogengebrauch“, Deutsche Leberhilfe e.V., Deutsche Leberstiftung (2013): Aktionsplan für eine nationale Strategie gegen Virushepatitis in Deutschland. Hannover, Juli 2013 http://www.deutscheleberstiftung.de/aktuelles/aktionsplan/
Global Commission on Drug Policy (2013): The Negative Impact Of The War On Drugs On Public health: the Hidden Hepatitis C Epidemic. Report of the Global Commission on Drug Policy. www.globalcommissionondrugs.org
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