Von John Litau
In der öffentlichen Debatte zum Thema Alkohol kommt der Bevölkerungsgruppe der Jugendlichen eine gesonderte Aufmerksamkeit zu. Besonders der riskante Alkoholkonsum im Jugendalter – bekannt als Phänomen des „Rauschtrinkens“, „Komasaufens“ oder „Binge Drinking“ – und dessen Folgen und Zusammenhänge mit Gewaltbereitschaft, erhöhter Verletzungs- und Unfallgefahr, Verkehrsdelikten,ungeschütztem Sexualverhalten oder Schulversagen, stehen dabei im Vordergrund des öffentlichen sowie drogen- und suchtpolitischen Interesses. Übersehen wird häufig hingegen, dass die jugendkulturelle Trinkkultur an gängige gesellschaftliche Konsummuster angelehnt ist, die in der Peergroup im Hinblick auf Trinkrituale, Anlässe, Motive und Getränke re-ritualisiert werden (Sting 2008). Alkohol kann als Kulturgut unserer Gesellschaft betrachtet werden und ist damit gebunden an eine übergreifende lebensweltliche Relevanz, wodurch für Jugendliche eine Art Auseinandersetzungspflicht mit dem Thema Alkohol besteht. Individuell wird Alkohol den eigenen Bedürfnissen entsprechend funktionalisiert, was sich in der damit verbundenen spielerischen Bewältigung von unterschiedlichen Herausforderungen zeigen kann, denen sich Jugendliche während der Adoleszenz stellen müssen (z.B. Übergang ins Erwachsenenalter oder Integration und Initiation in die Peergroup) (Litau 2013).
Sieht man von der medialen Berichterstattung ab und konzentriert sich auf die tatsächliche Datenlage, auf die sich beim Phänomen des Rauschtrinkens häufig bezogen wird, lässt sich lediglich der rasante Anstieg von alkoholbedingten Krankenhauseinweisungen bei Jugendlichen als besorgniserregendes Element der Debatte identifizieren. Basierend auf der Datenlage des Statistischen Bundesamtes (2013) hat sich die Zahl der wegen akuter Alkoholintoxikationen stationär im Krankenhaus behandelten Jugendlichen im Alter von 10 bis 20 Jahren in den letzten 12 Jahren mehr als verdoppelt (von 9.514 auf 26.673 Fälle). Diese Zahlen sind auf den ersten Blick erschreckend, relativieren sich jedoch bei einem genaueren Blick. So stellen die 26.673 Fälle der 10- bis 20-Jährigen nur 21,9% aller 121.595 Fälle von akuten Alkoholintoxikationen im Jahr 2012 dar. 29,2% (35.592) der Fälle entfallen dabei auf die 30bis 40-Jährigen und 44,6% (54.291) auf die 40- bis 70-Jährigen, also die Erwachsenenbevölkerung, bei der sich im selben Zeitraum die Fälle ebenfalls mehr als verdoppelt haben (GBE 2014). Erwähnenswert ist auch, dass bei den 10- bis 15-Jährigen, also der Altersgruppe, der per Jugendschutzgesetz der Konsum noch nicht gestattet ist und deshalb präventionspolitisch die größte Aufmerksamkeit zukommt, seit 2009 ein tendenzieller Abwärtstrend bei den alkoholbedingten Krankenhauseinweisungen zu verzeichnen ist, der lediglich 2011 (4.330 Fälle) unterbrochen wurde (2008: 4.512 Fälle; 2012: 3.999 Fälle).
Die unterschiedlichen Facetten dieser häufig zitierten Statistik sind wichtig, um die Relationen und Kontexte zu verdeutlichen, in denen die Entwicklung des auffälligen Konsums bei Jugendlichen zu betrachten ist. Angemerkt sei auch, dass damit ein Bild einer bestimmten auffällig gewordenen Gruppe von Jugendlichen entsteht, welches weder Rückschlüsse auf die Gesamtbevölkerung junger Menschen erlaubt, noch detaillierte Aussagen über diese spezielle Gruppe von Jugendlichen zulässt, da die Umstände, Konstellationen und Schwere der Intoxikation die zur Krankenhauseinweisung geführt haben höchst divergent sein können (Kraus et al. 2013). Relativ wenig lässt sich daher auf der Grundlage der Krankenhausstatistik über den Großteil der wenig bis exzessiv konsumierenden Jugendlichen aussagen, die nicht durch einen Krankenhausaufenthalt auffällig geworden sind. Verallgemeinerungen hinsichtlich zunehmendem Alkoholkonsum im Jugendalter auf der Basis von Krankenhausstatistiken sind daher widerspruchsvoll.
Hinsichtlich empirischer Evidenz lässt sich die Debatte noch weiter explizieren. Aufschlussreich ist hier die „Drogenaffinitätsstudie“ der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, eine regelmäßige Repräsentativbefragung der 12- bis 25- jährigen Bevölkerung in Deutschland hinsichtlich des Konsums von Alkohol, Tabak und illegalen Drogen. Mit Hilfe der letzten vorliegenden Erhebung aus dem Jahr 2011 (BZgA 2012) soll im Folgenden die Entwicklung von drei Merkmalen des Alkoholkonsums im Jugendalter nachgezeichnet werden: Das Einstiegsalter, der regelmäßige Konsum sowie der als exzessiv deklarierte Konsum bzw. das sogenannte „Rauschtrinken“.
Zusammengenommen zeigen die ersten beiden Merkmale, dass der Alkoholkonsum bei Jugendlichen im Alter von 12 bis 25 Jahren in den letzten zehn Jahren kontinuierlich zurückgegangen ist und später beginnt. So hat sich der Erstkonsum (erstes Glas Alkohol) im Durchschnitt von 14,1 Jahren im Jahr 2004 auf 14,5 Jahre im Jahr 2011 nach hinten verschoben. Ähnlich verschoben hat sich auch der erste Alkoholrausch von 15,5 Jahren 2004 auf 15,9 Jahre im Jahr 2011. Bei der Teilstichprobe der 12- bis 17-Jährigen sind die Verschiebungen sogar noch deutlicher (2004: von 13,0 auf 13,6 Jahre bei Erstkonsum und 2008: 14,3 auf 14,9 Jahre bei erstem Rausch). Was den regelmäßigen Konsum betrifft, ist bei Jugendlichen, die mindestens einmal in der Woche Alkohol konsumieren, ein eindeutig fallender Trend zu erkennen. Während 1973 noch 67,1% der 18- bis 25-Jährigen regelmäßig getrunken haben, waren es 2011 noch 39,8%. Auch bei den 12- bis 17-Jährigen ging der regelmäßige Konsum von 25,4% (1979) auf 14,2% im Jahr 2011 zurück. Die 30-Tages-Prävalenz, also der Anteil derjenigen, die in den letzten 30 Tagen Alkohol konsumiert haben, ging bei den 12- bis 17-Jährigen von 58,4% im Jahr 2004 auf 42,0% und bei den 18- bis 25- Jährigen von 84,4% im Jahr 2004 auf 81,9% im Jahr 2011 zurück.
Interessant ist auch die Veränderung des dritten Merkmals, der 30-Tages-Prävalenz des Rauschtrinkens, also dem Konsumindikator, der für den als exzessiv deklarierten oder riskanten Konsum steht und häufig auch als Binge Drinking bezeichnet wird. Das Trinkverhalten, welches darunter gefasst wird, entspricht in der BZgA-Studie dem hintereinander folgenden Konsum von fünf oder mehr Gläsern Alkohol in den letzten 30 Tagen. Dies betrifft im Vergleich zu 2004 (22,6%) nur noch 15,2% der 12- bis 25-Jährigen. Bei den 12- bis 15-Jährigen hat sich die 30-TagesPrävalenz sogar mehr als halbiert. Gleichermaßen ist auch das häufige Rauschtrinken (mindestens viermal in den letzten 30 Tagen) seit 2004 signifikant zurückgegangen und betrifft nur 3,7% der 12- bis 17- Jährigen. Neben dem kontinuierlichen Rückgang bei der 30-Tages-Prävalenz des Rauschtrinkens sei auf einen weiteren Aspekt verwiesen: Die Konzentration auf diesen Indikator als Maß für problematischen Konsum, ist selbst nicht unproblematisch. Für Prävalenzraten nützlich ist der Versuch einer objektiv formellen Quantifizierung des Rausches bzw. des Alkoholkonsums über die „hintereinander“ konsumierte Menge. Internationale Studien, wie ESPAD oder HBSC (s. unten) beziehen sich dabei etwas deutlicher als die BZgA-Studie, auf den Konsum von mindestens fünf sogenannten Standardgetränken (gemessen am Reinalkoholgehalt in Gramm) bei Männern und vier Standardgetränken bei Frauen innerhalb eines Trinkereignisses in den letzten 30 Tagen. Ein gewisses wissenschaftsmethodisches Problem steckt jedoch in der Zeitdimension, die in beiden Fällen dem Konsum zu Grunde gelegt wird (Martinic/ Measham 2008). So wird die spezifische Trinkgelegenheit, in der die (Standard-) Getränke konsumiert werden (können), nicht weiter konkretisiert. Die Settings, in denen Jugendliche Alkohol konsumieren, können aber sehr unterschiedlich sein und sich im Verlauf der Trinkereignisse verändern. So kann eine Trinkgelegenheit den Konsum von fünf Gläsern Alkohol innerhalb einer halben Stunde umfassen, dieselbe Konsummenge kann aber auch auf eine ganze Nacht verteilt sein. Da zudem eine Intoxikation per Definition keine zwingende Folge dieses Indikators sein muss, kann ein Jugendlicher mit einer gewissen Trinkerfahrung oder Alkoholtoleranz als Rauschtrinker deklariert werden, ohne dass dieser überhaupt einen subjektiven Rauschzustand erreicht hat. Daher lassen sich auf dieser Grundlage nur sehr eingeschränkte Aussagen bezüglich situativ riskantem Konsum treffen.
Ohne im Detail darauf eingehen zu können, bestätigt sich der Trend zu weniger Alkoholkonsum unter deutschen Jugendlichen auch in internationalen Studien, wie in der europäischen ESPAD-Studie zum Konsumverhalten von 15- und 16-jährigen Schülerinnen und Schülern (Hibell et al. 2012) oder in der internationalen HBSC-Studie zur Gesundheit und zum gesundheitsrelevanten Verhalten von 11- bis 15-jährigen Schülerinnen und Schülern der WHO (Currie et al. 2012). Ähnliche Entwicklungstendenzen konnte auch Werse (2014) auf lokaler Ebene in einer deutschen Großstadt (Frankfurt) nachzeichnen. Zwar lassen sich die Untersuchungen auf Grund der unterschiedlichen Stichproben und Studiendesigns nicht direkt miteinander vergleichen, sie bestätigen jedoch die Tendenz und eine kontinuierliche Entwicklung zu generell geringerem Alkoholkonsum im Jugendalter. Die internationale Perspektive zeigt auch, dass sich unter Jugendlichen neue Formen des Umgangs mit Alkohol abzeichnen, die sich in einer jugendkulturell geprägten „neuen Kultur des Rausches“ (Measham/Brain 2005; Järvinen/Room 2007) abbilden, welche sich beispielsweise dadurch kennzeichnet, dass sich die Trinkpraktiken von Jungen und Mädchen, vor allem aber ihre Motive und Begründungsmuster immer ähnlicher werden und sich weniger zwischen als innerhalb der Geschlechtergruppen unterscheiden (Demant/Törrönen 2011; Litau/ Stauber 2012). Kennzeichnend ist dabei nicht die Absicht eines komatösen Betrunkenheitszustandes, sondern eher ein „kontrollierter Kontrollverlust“ (Measham 2002; Measham/Brain 2005), bei dem die negativen körperlichen und sozialen Folgen des Rausches durch Selbst- und Gruppenkontrolle vermieden werden sollen. Vor dem Hintergrund der dargelegten, insgesamt eher positiv zu bewertenden Konsumentwicklungen des Alkoholkonsums im Jugendalter, scheint es unverständlich, warum das Thema nach wie vor eine so stabile Konjunktur genießt und sich vor allem der zu Grunde liegende skandalisierende Duktus der Debatte nicht allmählich verändert. Durchaus ist aus der Jugendforschung das Phänomen bekannt, dass gesellschaftliche Probleme auf eine nicht weiter definierte Gruppe der „Jugend“ verschoben werden und in diesem Rahmen problematisiert und verhandelt werden (Griese 2007). Der Alkoholkonsum der Jugendlichen steht so stellvertretend und als „Seismograph“ einer Gesellschaft, in der das Keltern, Brauen und Brennen die nationale Kultur und regionale Traditionen seit Jahrhunderten geprägt haben. Die Objektivität der Berichterstattung bleibt daher fraglich, da sie offensichtlich eher auf Sensationsbefriedigung abzielt. Durch die mediale Aufmerksamkeit des Themas muss aber davon ausgegangen werden, dass es auch zu einer Aufmerksamkeitsverschiebung und so zu einer Sensibilisierung für trinkende Jugendliche gekommen ist – dies sowohl bei der Gesamtbevölkerung, als auch bei den Jugendlichen selbst. Somit stehen die gestiegenen alkoholbedingten Krankenhauseinweisungen bei einem gleichzeitigen Abwärtstrend von regelmäßigem und exzessivem Konsum auch für eine sinkende Schwelle, im Zweifelsfall einen Notruf zu tätigen, worauf beispielsweise der Trend zur kontinuierlich fallenden durchschnittlichen Blutalkoholkonzentration bei Krankenhauseinweisungen in Bayern hindeutet (Wurdak et al. 2013). Das hat zum einen Einfluss auf die immer weiter steigenden Zahlen von Alkoholintoxikationen, zeigt zum anderen aber auch den positiven Nebeneffekt, dass die Gefahren eines Alkoholrauschs aktuell offensichtlich ernster genommen werden als zuvor.
Alle oben zitierten Studien machen deutlich, dass die meisten im Verlauf ihrer Adoleszenz mit Alkohol in Kontakt kommen. Die Motive des jugendlichen Konsums sind in der Regel spaßorientiert, zielen auf Enthemmung und zeigen sich weniger in Form von Problembewältigung (Stumpp et al. 2009). Der Umgang mit Alkohol ist bei Jugendlichen nicht willkürlich, sondern häufig verbunden mit detailliertem Orientierungswissen hinsichtlich der sozialen Situation, der Zusammensetzung der Trinkgruppe und der Getränkeart. Das Orientierungswissen resultiert aus positiven und negativen Erfahrungen im Umgang mit Alkohol, die handlungsleitend und identitätsstiftend sein können, gerade in einem Alter, das von Unsicherheiten geprägt ist (Litau 2011). Die Gruppe, in der in den meisten Fällen getrunken wird, bietet den Jugendlichen dabei einen wichtigen Erfahrungsraum und ist in dieser Funktion ambivalent, da sie einerseits einen Risikoraum darstellt, in dem Jugendliche über einen vereinfachten Zugang zu Alkohol verfügen und zum Konsum animiert werden. Andererseits stellt die Gruppe einen Schutzraum dar, in dem Normen für das Trinken durch Regeln festgelegt und Vorkehrungen getroffen werden, damit ein bestimmtes Verhaltenslimit nicht überschritten wird (Stumpp et al. 2009). Bei den meisten lässt der intensive Konsum nach einer unbestimmten Zeit nach und mündet in Abstinenz oder „normalen“ bzw. gesellschaftlich akzeptierten Konsum (Clark 2004). Ein erhöhtes Suchtrisiko besteht dagegen nur, wenn zu einem exzessiven Alkoholkonsum weitere Suchtgefährdungsfaktoren hinzukommen, die sich grob unter mangelnder Impulssteuerung oder erhöhter Komorbidität mit psychischen Störungen zusammenfassen lassen (Wells et al. 2004). Wie genau aber ein Großteil der Jugendlichen den Umgang mit Alkohol erlernen, darüber weiß man, im Unterschied zur Prävalenz von Alkoholkonsum im Jugendalter, noch relativ wenig. Dies sollte daher in Zukunft gerade auch aus präventionspolitischen Interessen stärker fokussiert werden.
Für die Zukunft ist eine erweiterte und nicht ausschließlich problemorientierte Perspektive auf das Thema Alkoholkonsum im Jugendalter erforderlich, um dieses aktuell und den Prämissen gesellschaftlicher Entwicklung angemessen einordnen und somit drogen- und suchtpolitische Strategien begründen zu können. Eine solche Perspektive mahnt auch zu einem kritischeren öffentlichen Umgang mit wissenschaftlichen Daten und ihren unterschiedlichen Lesarten und Interpretationen, besonders hinsichtlich gesellschaftlich sensibler Themen.
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