Schulische Sucht-Prävention? Ein – leider – grundsätzlich verfehlter Ansatz

C I Schwerpunkte der Drogen und Suchtpolitik
C 1 Prävention

C 1-1
Stephan Quensel Schulische Sucht-Prävention? Ein – leider – grundsätzlich verfehlter Ansatz 38

1. Als vornehmlich gegen Jugendliche gerichtetes Kontrollinstrument kombiniert die Suchtprävention drei scheinbar höchst plausible Kontroll-Strategien:

Zunächst (1) das aus der US-amerikanischen Mental-Health-Bewegung des 19. Jahrhunderts stammende, auf die Alkohol-‚Sucht‘ bezogene psychiatrische Sucht-Konzept. Sodann (2) die seit Beginn des 20. Jahrhunderts anlaufende juristisch-strafrechtliche Bekämpfung illegaler Drogen. Und schließlich (3) den vor allem von der Sozialarbeit als neuem Tätigkeitsfeld willig aufgenommenen Präventions-Gedanken, der den beiden aufeinander aufbauenden Maximen folgt: ‚Heilen ist besser als Strafen‘ und ‚Vorbeugen ist besser als Heilen‘.

1.1 Dabei erwies sich vor allem das SuchtKonzept als psychiatrisch-therapeutische Mehrzweck-Waffe in mehrfachem Sinne: Zunächst ist es im Common Sense ebenso verankert wie in der Gesundheitspolitik der WHO (World Health Organization). Man versucht die Sucht psychiatrisch exakt in deren ICD-10 oder im US-amerikanischen DSM IV und jüngst im DSM V stufenweise zu definieren und dann auch skalenmäßig zu erfassen. Die Sucht beherrscht den hilflos Süchtigen, exkulpiert ihn aber nicht; sie lässt sich therapieren, selbst wenn sie im Gehirn verankert sein soll; und sie droht demjenigen als nahezu unausweichliches Schicksal, der sich zum – präventiv relevanten – Beginn auf eine schiefe Bahn begibt, oder der später, nach Genuss einer einzigen Cognac-Bohne, rettungslos rückfällig werden wird.

Doch ist diese ‚Sucht‘ nichts anderes als ein – negativ als krankhaft eingefärbtes – Etikett, das bestimmte, zumeist ‚ gesellschaftlich‘ unerwünschte Verhaltensweisen mit einem zugleich entschuldigenden wie vorwurfsvollen Stempel belegt. Dessen ‚Realität‘ nicht nur autoritativ vom dazu zuständigen SuchtExperten diagnostisch festgelegt, sondern das dann auch entsprechend ambivalent vom ‚Süchtigen‘ übernommen und damit sichtbar bestätigt wird.

1.2 Auch die Anti-Drogen-Strategie, die seit der Haager Konferenz (1912: ‚International Opium Convention’) vor allem von den USAmerikanern vorangetrieben wird, reicht vom Common Sense besorgter Erwachsener und entsprechend interessierter Politiker über die Arbeit der Europäischen Beobachtungsstelle (EMCDDA/EBDD), die jährlich einen Drogenbericht publiziert, und die 2011 nach langer Beratung die ‚European Drug Prevention Quality Standards’ publiziert hat, bis in die luftigen Höhen des UNODC (United Nations Office on Drugs and Crime), das den World Drug Report sowie die International Standards of Druguse Prevention (IntStand 2013) herausgibt, und des Internationalen Narcotic Control Boards (INCB), der sich dezidiert gegen die diversen Versuche, Cannabis zu legalisieren wendet, oder die UN-Generalversammlung (UNGASS), die 1998 einen großartigen ‚Action Plan on International Cooperation on the Eradication of Illicit Drug Crops’ bis 2008 beschloss, der jedoch 2013 auf einer Evaluations-Konferenz in Wien, wie zu erwarten, kaum die erwünschten Erfolge aufweisen konnte. 1.3 Die Suchtprävention lebt von diesen beiden Konstruktionen, der Suchtund der Drogen-Gefahr, wobei sie, wie jede Prävention, drei Prämissen folgt:
(1) Sie muss, logisch, vor der zu verhütenden Gefahr einsetzen, und zwar umso früher, je tiefer ihre Wurzeln in die Vergangenheit reichen, weshalb man mitunter auf den Kindergarten oder auf die Beratung von ‚Problem-Müttern‘ durch geschulte Familienhebammen zurückgreifen will (‚prenatal and infancy visitation’). Dabei nimmt man „stärker als in der Vergangenheit nicht nur die Abhängigkeit in den Blick, sondern auch riskantes Konsumverhalten, das gesundheitsschädlich und entwicklungseinschränkend ist, auch wenn es nicht zwingend zu einer Abhängigkeit führt“. (DBDD 2012, S. 9).
(2) Diese Prävention soll zudem möglichst ‚umfassend‘ angelegt werden. Und zwar sowohl hinsichtlich der zu erfassenden Personen, zumal dann, wenn man die künftig Gefährdeten nicht zureichend prognostizieren kann, oder wenn man bei entsprechend ‚sekundär präventiver‘, ‚indizierter’ Auslese deren frühzeitige Stigmatisierung befürchten muss. ‚Umfassend‘ aber auch hinsichtlich der empirisch erhobenen – korrelativen, also nicht kausalen – Fülle möglicher ‚Risiko-Faktoren‘. Weswegen man nicht nur auf verallgemeinernde ‚Kompetenz-Trainings‘ zurückgreift, sondern möglichst auch Lehrer, Eltern und die ganze Gemeinde (‚Community-based multi-component initiatives’) in solche Präventions-Kampagnen einbezieht. Eine Frage also der Ausdauer, des verfügbaren Personals und der Kosten, die der Suchtprävention ein nahezu unbegrenzbares Tätigkeitsfeld eröffnet.
(3) Schließlich muss man eine künftig als möglich angesehene Gefahr schon heute realiter bekämpfen. Sei es ganz direkt dadurch, dass man die gefährdenden Böcke von den gefährdeten Schafen trennt, also den ertappten Cannabis-Sünder von der Schule weist, oder indem man diejenigen Schulklassen, in denen mehr als 10 Prozent schon einmal geraucht haben, aus dem ‚Be-smartdon‘t-start‘Programm ausschließt. Oder sei es dadurch, dass man im angepriesenen Kompetenz-Training übt ‚nein zu sagen‘, auch wenn solche unschuldigen Novizen auf diese Weise ihre sozialen Kontakte völlig verlieren. Geradezu paradox wirkt sich diese Strategie dann aus, wenn man es vermeidet, über einen angemessenen Umgang mit der Droge aufzuklären. Weil Novizen dann mühsam und gefahrenträchtig ihren, von diversen erwachsenen und jugendlichen Mythen gepflasterten eigenen Weg finden müssen. Obwohl, wie unsere Untersuchung zeigte, zwar die NochAbstinenten glaubten, schon alles über die Abhängigkeit zu wissen, während die Konsumierenden dagegen sich, selbst von der Schule, weitere Drogen-Informationen wünschten.

Eine paradoxe Situation, die etwa dazu führt, dass auf privaten Abiturfeiern die Unerfahrenen die Alkohol-Opfer stellen, die zum Glück von ihren kompetenteren Freunden inzwischen verstärkt dem ärztlichen Notdienst überantwortet werden; womit man steigende Krankenhaus-Zahlen ebenso belegen kann, wie die Sorge, dass das Koma-Saufen immer mehr auch die jüngeren und ‚besseren Kreise‘ erfasse. Um nun mit einem besonders gelobten Programm – HaLT (Hart am LimiT), das inzwischen bundesweit umgesetzt wurde – u.a. diese Sünder gleich am Krankenbett in ‚ihrer kritischen Phase‘ – wieder in gleicher Weise Gefahren-orientiert – zu bearbeiten. Anstatt darauf zu setzen, dass viele dieser Jugendlichen aus Scham über ihr ‚AlkoholVersagen’ in Zukunft etwas ‚vernünftiger’ Alkohol konsumieren werden; was sich sogar, mangels zureichender Kontrollgruppen, evaluativ als Programm-Erfolg verkaufen ließe.

2. Das Geschäft der Suchtprävention hat sich inzwischen, einmal mehr unter der Führung des ‚puritanischen’ US-Amerika, zu einer regelrechten Präventions-Industrie ausgewachsen. Ähnlich wie in der Sucht-Therapie, und häufig Hand in Hand mit ihr, gelang es, gestützt auf das US-amerikanische Vorbild, staatlich gefördert und dotiert, die ursprünglich laienhaft naiven Ansätze in größerem Maßstab zu professionalisieren, zu ‚evaluieren’, zu beforschen und zu vermarkten: So verwertet und empfiehlt etwa das IFT München (Institut für Therapieforschung) vorwiegend die US-amerikanische DrogenLiteratur, während das namensgleiche norddeutsche IFT Nord (Institut für Therapie und Gesundheitsforschung) aus Kiel seit 1997 das u.a. von der BZgA, der AOK und der Deutschen Krebshilfe geförderte ‚Be-SmartDon‘t-Start‘-Programm realisiert.

Inzwischen hat diese ‚Präventions-Industrie’ ein erstaunlich hohes, sich selbst stabilisierendes Maß an Professionalisierung erreicht. Eine Professionalisierung, die sich einerseits mit einem hohen quasi-wissenschaftlichem Anspruch ‚institutionell’, nach außen abschotten kann, wie dies etwa im vom BZgA betriebenen ‚Dot.sys. 3.0’, einer Sammlung einschlägiger Suchtpräventions-Programme, und im ‚Prevnet’ mit 900 Einrichtungen und rund 1.400 Mitgliedern – „der größten OnlinePlattform für die Fachexperten der Suchtvorbeugung“ – zu beobachten ist, in der man nur als überprüfter ‚Fachexperte’ Mitglied werden kann.
Und die sich andererseits als Profession weithin selber positiv ‚evaluiert’, so sehr freilich von neutraler Hand betriebene Evaluationen eher keine, wenn nicht sogar negative (iatrogene) Erfolge zu Tage fördern. Weswegen man in betriebseigenen Evaluationen alle legitimen methodischen und statistischen Tricks einsetzt – indem man etwa die Zahl der befragten Probanden oder der überprüften Befunde so hoch ansetzt, dass sich Signifikanzen kaum vermeiden lassen, während die praktische Relevanz gegen Null tendiert; oder sich dazu verführen lässt, die Auswertung so anzusetzen, dass der normale – politische oder finanzierende – Empfänger den dahinter liegenden bewussten oder so nicht bedachten Betrug kaum durchschauen kann. 39
Man kann aber auch, wie etwa der Drogenund Suchtbericht der Bundes-Drogenbeauftragten (2009), die von der renommierten Firma Prognos bestätigte korrekte Durchführung des HaLT-Programms (‚ProzessEvaluation’) als ‚evaluative Bestätigung’ werten, obwohl dies, ähnlich dem Prüfbericht über eine richtig aufgebaute Anlage für AutoCrash-Tests, zwar eine notwendige, doch keineswegs eine hinreichende Aussage über das erwartete Ergebnis liefert.

3. ‚Objekt‘, nicht jedoch Subjekt, dieser Suchtprävention sind – mit gewisser altersmäßiger Variation – üblicherweise Jugendliche, die die Schule besuchen, da man sie hier am besten erreichen kann. Als noch ‚unmündig‘ begriffen, unverständig und schutzbedürftig ‚leben‘ sie jedoch in ihrer eigenen, von den ‚Erwachsenen‘ wenig verstandenen Welt, in der sie sich behaupten müssen, ‚heute‘ ihren Lebens-Sinn finden und das ‚Morgen‘ einüben sollen. In einer eigenständigen Lebensweise, in einer – mannigfach gebrochenen – ‚Jugendkultur‘, in der sie sich im Peergruppen-Kontext – und zwar vor allem auch im Party-Kontakt mit dem anderen Geschlecht – bewegen und bewähren müssen. Ein Kontext, der zum Leidwesen der Erwachsenen weniger schuldenn freizeitbezogen ausfällt, und in dem ‚harte‘ jugendkulturelle Sitten und sich mitunter rasch wandelnde Moden dominieren, die heute, im Zeitalter der Internet-Kommunikation, stärker das Auf und Ab von Drogen-Wellen bestimmen als jede erfolgreiche Prävention. Mit einem Musik-, Sprach-, Kleidungs- und Körper-Stil, dem man folgen sollte, sofern man die für die Identität notwendige Anerkennung der anderen Jugendlichen, doch nicht unbedingt die der Erwachsenen, gewinnen will. Stil-Figuren, mit denen man sich – zumindest partiell – ‚von den anderen‘, also von den ‚Braven’ und insbesondere von der Lebensweise der Erwachsenen abheben will, wenn dies auch heute in manchen Bereichen schwerer fällt als in früheren Zeiten.

Zu diesem Jugend-Stil gehören auch einige, von den Erwachsenen als ‚abweichend‘ definierte Verhaltensweisen, wie etwa der jugendlich laute Alkohol-Konsum und das ‚verfrühte’ Rauchen; bei den Jungen die kleinere Delinquenz und manche ‚Gewalt’; bei den Mädchen noch immer das ‚risky sexual behaviour’ und der bisher präventiv noch wenig beachtete Konsum von Tabletten aller Art; und schließlich für beide der besonders eng mit dem Musik-Stil verbundene, Modeabhängige Konsum so genannter ‚Legal Highs’ oder ‚Party-Drogen‘, die man so nicht nennen soll, da dies das Problem verharmlosen würde.
Zusammengenommen bilden diese Verhaltensweisen – mit jeweils variierenden Schwerpunkten – einen über die europäischen Grenzen hinweg reichenden, für Jungen wie Mädchen gemeinsamen, positiv besetzten jugendlichen Freizeitstil, an dem nicht nur gemessen wird, wer und was ‚in‘ und wer ‚out‘ ist, sondern der zugleich auch die zukunftsträchtige Möglichkeit bietet, sich eigenständig zu bewähren. Mit zwei unerwünschten Konsequenzen:

3.1 Wer sich diesem Stil verweigert, riskiert, sofern er/sie nicht anderweitig, insbesondere in anderen Gruppen-Kontexten abgesichert ist – wie z.B. in manchen präventiv immer wieder empfohlenen, doch häufig dem Alkohol geneigten Sportarten – sozial isoliert zu werden. Mit zwei typischen weiteren Folgen: Häufig versuchen jüngere Novizen, unerfahren und noch ohne den schützenden Gruppen-Kontext – durch selbst auferlegte und von außen geförderte ‚Mutproben‘ – in solchen verpönten, jugend-kulturell jeweils vorgeformten Verhaltensbereichen Anerkennung und damit Aufnahme in die Gruppe zu erwerben. Koma-Saufen-Unfälle liegen dann ebenso nahe, wie ‚Horror‘-Erfahrungen im weiteren Party-Drogen-Bereich; die übrigens umso seltener auftreten, je erfahrener die Konsumenten insgesamt mit diesen Drogen umgehen können.
Misslingen solche Anbiederungsversuche, liegt es nahe – was in unserer Untersuchung deutlich sichtbar wurde –, die in diesem Alter besonders intensiv erlebte soziale Isolation depressiv zu verarbeiten, wofür als Beispiel das ‚einsam heimliche Trinken‘ späterer Altersstufen stehen mag.

3.2 Schulprobleme treten auch ohne den begleitenden Drogen-Konsum auf; während um50    gekehrt, im Präventions-Denken unerwartet, viele Schüler selbst mit einem intensiveren ‚normalen‘ Drogen-Konsum kompetent umgehen können, ohne solche Schulprobleme zu haben. Wenn beide ‚Probleme‘, Schulversagen wie Drogenkonsum, zusammentreffen, bleibt offen, welcher dieser beiden Bereiche vorrangig ist, da sie sich im Laufe eines längeren Prozesses gegenseitig hochschaukeln werden. Dabei ließe sich die schulische Komponente, wenn nicht von Anfang an, so doch im Laufe dieses Prozesses, leichter beheben, als ihre – häufig eher in Reaktion auf dieses Schulversagen kompensierend angelegte – jugendspezifisch gruppenorientierte Drogen-Komponente.
Wir haben also für eine schulspezifische Prävention – neben einer zureichenden und erwünschten ‚realistischen’ Aufklärung, wie sie etwa in www.drugscouts.de angeboten oder im risikopädagogischen Rebound-Proversucht gramm (www.my-rebound.eu) werden soll – mit zwei sich deutlich abzeichnenden Problem-Gruppen zu tun: Eine brave, depressiv eingefärbte Gruppe der mehr oder weniger sozial Isolierten einerseits, und die häufig kompensatorisch Drogen konsumierenden ‚Schulversager‘ andererseits. Während im Normalfall der ‚normale‘ jugendspezifische Drogenkonsum eher soziale Kontakte begünstigt und ohne schulische Folgen bleibt. Beide ‚Problemgruppen‘ sind – ohne großen Aufwand und ohne Drogen-Stigma-Folgen – leicht für entsprechende ‚Fördermaßnahmen‘ zu erkennen.

3.3 Diese jugendspezifische ‚Drogen-Normalität‘ kann nicht nur gegen die befürchteten Süchte ‚immunisieren’, sondern wird sich gewöhnlich von selber ‚auswachsen‘, ohne notwendigen Zusammenhang mit eventuell später auftretenden erwachsenen ‚Sucht -Problemen‘, die doch eine darauf ausgerichtete Sucht-Prävention begründen sollen. Man kennt das aus der Delinquenz-Entwicklung, die mit dem Eintritt in das ErwachsenenAlter zunehmend versiegt, wie aus den üblichen Cannabis-Verläufen – zumal der Konsum von Cannabis, entgegen dem propagandistischen Fehlschluss, bei den Junkies eher als Ausstiegsdenn als Einstiegs-Droge  wirksam wird – weil sie mit dem Auslaufen der Zugehörigkeit zur Jugendkultur an Reiz verlieren, sofern sie nicht ganz normal in eine erwachsene ‚work-hard-live-easy‘-Kultur als Entspannungsmittel eingebaut werden.

4. So sehr die derzeit übliche Suchtprävention weitgehend ohne evaluativ nachweisbare dauerhafte Erfolge agiert, so kann sie doch das ursprünglich definierte ‚Drogen-Problem‘ in doppelter Weise weiter verschärfen:

4.1 Bei den noch ‚Braven’ wächst das Risiko der sozialen Isolation. Den ‚Gefährdeten’ bietet sie einen Schul-‚Status’, der kompensatorisch die Schulproblematik vertiefen kann. Leicht führt dies zu einer frühzeitigen Stigmatisierung. Sei es, weil eine Mehrzahl ängstlich-intoleranter Schüler, Eltern oder aufgeschreckter Lehrer den präventiv angeratenen Ausschluss solcher Sündenböcke realisieren. Oder sei es, dass sekundär bzw. ‚indiziert’ präventiv gezielt darauf angesetzte Maßnahmen dieses ‚Gefahren‘-Merkmal, aus seinem jugendkulturellen Hintergrund herausgelöst, zum Master-Status-Merkmal erklären. In beiden Fällen, Isolation wie ‚Gefährdung‘, schürt die gegenwärtige Suchtprävention ebenso Intoleranz und unsolidarische Ausgrenzung wie sucht-spezifische Ängste und Erklärungsmuster, anstatt zureichend über die konkreten Gefahren in der Art und Weise des Drogen-Konsums und über brauchbare Nothilfen (!) im Rahmen eines ‚Erste-HilfeKurses’ aufzuklären.

4.2 Problematischer sind die indirekten Auswirkungen dieser Suchtprävention auf die Eltern der Schüler, insbesondere, wenn sie dieser altersspezifischen ‚Jugendkultur und deren Freizeitverhalten eher fremd gegenüberstehen. Die ihnen professionell und pseudowissenschaftlich vermittelten Informationen fördern, wenn sie wie üblich den allgemeinen Common-Sense-Befürchtungen entsprechen, solche mit Angst besetzte Abhängigkeits-Stereotypen, die nach unserer Untersuchung mit zunehmenden Alter und abnehmendem Bildungsstand immer ausgeprägter auftreten. Und zwar immer dann, wenn man, durch eine solche Aufklärung verunsichert,   weniger auf die isoliert Braven, denn auf die Drogen-Sündenböcke achtet. Oder wenn man in erweiterten Präventions-Programmen – wie etwa in der nach US-amerikanischen Vorbildern entwickelten und gepriesenen MDFT (Multidimensionale Familientherapie) 40 – mit eben dieser stereotypen ‚Suchtpräventions’Perspektive nunmehr auch noch „familiäre und institutionelle Bezugspersonen“ (Lehrer, Sozialarbeiter, Polizisten?) unmittelbar in eine solche Präventionsarbeit einbeziehen will.

Wobei die meisten dieser merkantilen Suchtpräventions-Programme mit ihren typischen Mittelschicht-Werten auf Jugendliche aus eben dieser sozialen Schicht ausgerichtet sind, während etwa, wie im ‚Be-Smart-Don‘tStart‘-Programm, Hauptschüler und andere Migranten nur schlecht erreicht werden. Ebenso, wie man solche MittelschichtJugendliche eher in den neuartigen CannabisTherapie-Angeboten – etwa im internationalen INCANT-Projekt (International Cannabis Need of Treatment) des Berliner Therapieladens – wieder findet. Während man den anderen in den – von der renommierten Beratungsfirma FOGS lediglich im Hinblick auf die Durchführung Prozess-evaluierten – polizeilich geleiteten FreD-Programmen (Frühintervention bei erstauffälligen Drogenkonsumenten) für ertappte Cannabis-Konsumenten begegnen wird.

Wie so oft bei solchen sogenannten ‚sozialen Problemen’ erweist es sich auch bei der ‚Sucht’-Prävention, dass zweifellos gegebene riskante und gelegentlich auch problematische Situationen dann, wenn sie in die Hände von organisierten und politischen Interessenten geraten, leider ein unerwünschtes Eigenleben entwickeln, in dem diese Akteure – häufig, jedoch keineswegs immer, mit bestem Wollen – das ‚Problem’ vorantreiben, wenn nicht gar selber produzieren werden.

38  Der Beitrag ist eine gekürzte Fassung meines Artikels ‚Schulische Suchtprävention. Zur Pathologisierung von Jugendlichen.’ In: Marcus Balzereit, Roland Anhorn (Hrsg) (2014): Handbuch Therapeutisierung und Soziale Arbeit. (im Druck). Dort findet man auch einen weiterführenden Anmerkungsapparat. Bei meinen Ausführungen stütze ich mich auf meine beiden Bücher ‚Das Elend der Suchtprävention’ und ‚Wer raucht der stiehlt… Zur Interpretation quantitativer Daten in der Jugendsoziologie’ (Quensel 2009 & 2010), in denen ich die hier angeschnittenen Fragen zunächst eher ‚theoretisch’, dann stärker ‚empirisch’ an Hand einer Umfrage unter 4.000 15-Jährigen aus 5 europäischen Großstädten analysiert habe

39  vgl. meine Kritik an der ‚Be-Smart-Don’t-Start’ Evaluation in Quensel 2007.

40  „Mit der MDFT liegt ein evidenzbasierter, integrativer Behandlungsansatz vor, bei dem bestehende familiäre und institutionelle Bezugspersonen einbezogen werden, um ihre erzieherische, beraterische und betreuende Kompetenz zu optimieren. Um zu helfen, ‚Drogenkarrieren’ der benachteiligten Jugendlichen zu verhindern, soll die MDFT bundesweit bekannt gemacht und umgesetzt werden. Zu diesem Zweck fördert das BMG seit Herbst 2012 die Qualifizierung von Fachkräften aus Einrichtungen der Jugendund Suchthilfe zu MDFT-Fachkräften bzw. MDFT-Supervisoren.“ (Drogenbeauftragte 2013, S. 144)

Literatur
DBDD (2012): Bericht 2012 des nationalen REITOX-Knotenpunkts an die EBDD; (www.dbdd.de › Publikationen )
Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung (2009): Drogenund Suchtbericht 2009. Berlin: Bundes-ministerium für Gesundheit.
Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung (2013): Drogenund Suchtbericht 2013. Berlin: Bundes-ministerium für Gesundheit.
Quensel, S. (2007): Staatsforschung: Wie „Be Smart-Don’t-Start“ sich selber evaluiert. In: Kriminologisches Journal 39, 1, S. 68-79.
Quensel, S. (2009): Wer raucht, der stiehlt…: Zur Interpretation quantitativer Daten in der Jugendsoziologie. Eine jugendkriminologische Studie. Wiesbaden: VS.
Quensel, S. (2010): Das Elend der Suchtprävention: Analyse Kritik – Alternative. 2. Aufl. Wiesbaden: VS. 52