Niedrigschwellige Drogenhilfe bleibt weiterhin bedroht – zu den Vorfällen um das Café Balance in Mainz

Von Urs Köthner

Die Durchsuchung im städtischen Drogenhilfezentrum „Café Balance“ war in seiner Art und Weise rechtswidrig! Dies hat das Landgericht Mainz, 1 1⁄2 Jahr nach dem Vorfall, in einem Revisionsverfahren am 28.10.2013 nun endlich entschieden. Was war geschehen:

Rund 100 Polizeibeamte hatten bei einer Großrazzia am 08.05.2012 das Drogenhilfezentrum Café Balance und zwei Wohnungen in Mainz durchsucht. Hintergrund war ein Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft wegen des gewerbsmäßigen Handels mit Rauschgift. Im Verdacht standen auch einige Mitarbeiter des Café Balance. Ihnen wurde vorgeworfen, den Handel von Drogen insbesondere bei einer Person aktiv gefördert zu haben, und zwar durch Gewähren einer Gelegenheit zum Verkauf und Erwerb von Drogen, Betrieb von Warnvorrichtungen vor der Polizei und Qualitätskontrollen der Drogen (Drug Checking).

Nach fünfstündiger Durchsuchung der Räumlichkeiten, der Besucher und des Personals war das Ergebnis: Im Café Balance wurden keinerlei Beweismittel oder Drogen gefunden, sondern nur ein paar Krümel Haschisch bei einigen Besuchern, die alle am Eingang abgefangen wurden. Zwei bestehende Haftbefehle wurden vollstreckt.

Die Kernaussagen in der Begründung des Urteils:
Der Einsatz von 100 Polizeibeamten am Durchsuchungstag war vollkommen überdimensioniert und hat durch die Art und Weise der Durchführung, insbesondere dem Timing der Maßnahme während der Öffnungszeiten, vermeidbaren großen Schaden für die Arbeit   der Drogenhilfe und die betroffenen Mitarbeiter angerichtet.
Ein Großteil der Urteilsbegründung bestätigt jedoch die grundsätzliche Erforderlichkeit und Angemessenheit der Maßnahme zum Zeitpunkt der ermittlungsrichterlichen Überprüfung für die Durchsuchung. Von der Genehmigung bis zur Durchführung der Maßnahme hatte der Ermittlungsstand jedoch eine erhebliche Minderung der Vorwürfe gegen die Mitarbeiter der Drogenhilfeeinrichtung Cafe Balance ergeben, was sich vor dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz mildernd auf die Art und Weise der Durchführung hätte auswirken müssen. Die bestehenden Haftbefehle hätten auch jederzeit anderswo vollstreckt werden können.

Wenn man das Urteil aus der Distanz auf sich wirken lässt, liest es sich eigentlich wie ein Freispruch nach allen Seiten. Die Mitarbeiter sind freigesprochen worden und auch die Ermittlungsbehörden und Polizei haben im Großen und Ganzen nichts falsch gemacht, außer zum Schluss, als sie bei der Durchführung der Maßnahme allerletzte Ermittlungsergebnisse nicht berücksichtigten.

„Ist doch alles gut“, könnte man jetzt salopp denken, „eigentlich hat ja keiner wirklich was falsch gemacht…“

Aber genau hier beginnt das Dilemma in der Niedrigschwelligkeit: Der Konflikt war vorhersehbar, ebenso sein Ergebnis; es war nur eine Frage der Zeit, wann und wo er sich wieder inszeniert. Mainz ist nicht der erste Fall rund um niedrigschwellige Einrichtungen der Drogenhilfe. Die Tatvorwürfe ähneln sich immer wieder und die Ergebnisse der oft jahrelangen Ermittlungen und Prozesse laufen zumeist auf Freisprüche und Einstellungen hinaus. Was bleibt, sind immense Kollateralschäden und (Folge-)Kosten.

Ein prägendes Beispiel hierfür sind sicherlich die „Bielefelder Prozesse“ und ihre Folgewirkungen:
Am 3.2.03 wurde vor dem Landgericht in Bielefeld nach einer dreijährigen intensiven Ermittlungsphase der Prozess gegen zwei Vorstandsmitglieder und einen Mitarbeiter der Drogenberatung e.V. Bielefeld und gegen die Bielefelder Polizeiführung eröffnet. Die Anklage gründete sich auf den Verdacht des Gewährens einer Gelegenheit zum unbefugten Erwerb und zur unbefugten Abgabe von Drogen in den Räumlichkeiten der Drogenberatung und der niedrigschwelligen Hilfsangebote sowie die Förderung der Prostitution, und dies „im gemeinschaftlichen Zusammenwirken“ mit der damaligen Polizeiführung. Der Prozess ist zwar gegen Zahlung einer Geldbuße eingestellt worden, hat aber nicht zu einer rechtlichen Klarstellung beigetragen, so dass eine Rechtssicherheit für Mitarbeiter/innen und Nutzer/innen niedrigschwelliger Drogenhilfseinrichtungen sowie für die Polizei weiterhin nicht gegeben ist. Während die Leitung der Drogenberatung weiter arbeiten konnte, wurde dem damaligen Polizeipräsidenten Horst Kruse sein Amt entzogen.

In Bochum führten die Vorermittlungen zu diesem Prozess dazu, dass die Verhandlungen um die Einrichtung eines Drogenkonsumraums für zwei weitere Jahre nicht zum Abschluss kamen, weil der damalige Polizeipräsident Thomas Wenner mit Verweis auf die Bielefelder Prozesse die notwendige Zustimmung verweigerte. Im Dezember 2002 kam es zu einer groß angelegten Razzia im niedrigschwelligen Kontaktladen der Krisenhilfe Bochum e.V. (ausgesprochen vergleichbar mit der jetzigen Durchsuchung im Cafe Balance und genauso erfolglos) und in den folgenden Jahren zu täglichen engmaschigen Kontrollen und Überwachung der Besucher direkt vor und auch im Kontaktladen. Der damalige Bochumer Polizeipräsident stellte nicht die Sinnhaftigkeit der Angebote in Frage, sondern berief sich auf das Urteil im Prozess, wonach er keine „Schutzzone um Drogenhilfeeinrichtungen“ dulden oder fordern kann („Verführung eines Untergebenen zu einer Straftat…“) und die Teilnahme an Arbeitskreisen schon eine Mitwisserschaft bedeuten würde.

Hier zeigte sich für alle Beteiligten ein Dilemma:
Einerseits ist die Polizei an das Legalitätsprinzip gebunden und darf rund um eine Drogenhilfeeinrichtung keinen rechtsfreien Raum entstehen lassen, sonst macht sie sich selber strafbar, andererseits behindern/ verhindern beständige Ermittlungen vor der Drogenberatung den Besuch von Menschen, die illegalisierte Drogen konsumieren, Hilfe suchen und um ihre Anonymität bemüht sind.

Wie nachhaltig solche Ermittlungen und Maßnahmen auch heute, mehr als 10 Jahre nach dem Prozess, noch wirken, zeigt die Stellungnahme des ehemaligen Bielefelder Polizeipräsidenten Horst Kruse auf dem internationalen akzept-Kongress im Oktober 2013. Er beschreibt das Dilemma und seine schadhaften Folgewirkungen aus Sicht der Polizei eindrücklich und bemängelt in aller Deutlichkeit die fehlende Bereitschaft der Politik, die Konsequenzen aus diesen Erfahrungen zu ziehen. Aufgrund dieser Rede verweigerten aktuell verantwortliche Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft und Polizei jegliche Stellungnahme und die Teilnahme an einer fest zugesagten Podiumsdiskussion auf dem Kongress. 147

Schon die „Bielefelder Prozesse“ 2000 bis 2003 und die Großrazzia im niedrigschwelligen Kontaktladen in Bochum 2002 haben neben weiteren Beispielen deutlich gezeigt, dass durch massive repressive Maßnahmen rund um Drogenhilfeeinrichtungen der Drogenhandel nur marginal gestört werden kann, demgegenüber aber die Angebote der Hilfeeinrichtungen, die Mitarbeiter/innen und Hilfesuchenden umso mehr unter den Auswirkungen jahrelang leiden: Die Atmosphäre in den Einrichtungen wird unruhiger und aggressiver durch die Verunsicherung einer potenziellen Strafverfolgung.

In diesem Klima ist der Aufbau von vertrauensvollen Beziehungen zwischen Mitarbeiter/innen und Klient/innen, als Basis für weiterführende Hilfen, sehr erschwert. Die Arbeit der Sozialarbeiter/innen verschiebt sich zunehmend Richtung Ordnungsfunktionen und rigider Auslegung der Hausregeln um nicht selber potentiell straffällig zu werden.
Ein Nebeneffekt ordnungspolitischer Strategien ist, dass der wesentliche Inhalt und Wirkmechanismus von niedrigschwelligen Hilfeangeboten stark beeinträchtigt wird und in den Hintergrund tritt.

Kontakt- und Beziehungsarbeit, welche auf Vertrauen, Akzeptanz und Anteilnahme gegenüber den Hilfesuchenden basiert, darf nicht durch Kontrolle dominiert werden. Der notwendige Spielraum für Beziehungsarbeit, sozialarbeiterische, therapeutische Hilfen, Kriseninterventionen und deeskalierende Maßnahmen wird stark einschränkt. Die Mitarbeiter/innen werden zunehmend nur noch als „Aufpasser“ und verlängerter Arm der Strafverfolgung erlebt, obwohl sie selber bedroht sind, potenziell straffällig zu werden, nur weil sie ihrer Arbeit nachgehen.

Der Betrieb von niedrigschwelligen Drogenhilfeeinrichtungen bleibt im Rahmen der Prohibitionspolitik ein juristischer Drahtseilakt für alle Beteiligten. Die Grenzen müssen in der täglichen Praxis immer wieder mühsam ausgehandelt werden, was nicht zu einem Gefühl von Sicherheit für Konsument/innen, Mitarbeiter/innen, Strafverfolgungsund Ordnungsbehörden führt. Unter diesen Bedingungen agieren zu müssen, ist für alle Beteiligten eine psychische Belastung und große Herausforderung. Zudem verschlingt die rechtliche Brisanz niedrigschwelliger Drogenhilfeangebote zunehmend personelle Kapazitäten in den Hilfseinrichtungen, die sich mit dieser Problematik beschäftigen müssen. Das alles kostet Zeit, die in der wichtigen Beziehungs- und Kontaktarbeit dann fehlt.

Gut funktionierende Ordnungspartnerschaften sind leider kein Garant für Rechtssicherheit. Dies wurde uns gerade in Mainz wieder einmal vors Auge geführt, und es wird wieder passieren, wenn die Politik nicht bald handelt.

Hier geht es um den Paragraphen 29.1.(10,11) des BtMG: „Mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer eine Gelegenheit zum unbefugten Verbrauch, Erwerb oder zur unbefugten Abgabe von Betäubungsmitteln öffentlich oder eigennützig mitteilt, eine solche Gelegenheit einem anderen verschafft oder gewährt oder ihn zum unbefugten Verbrauch von Betäubungsmitteln verleitet“. Im Rahmen der Drogenhilfe lässt es sich jedoch niemals vermeiden, dass Nutzer/innen entsprechender Einrichtungen Straftaten nach dem BtMG begehen, indem sie beispielsweise illegalisierte Substanzen besitzen (sonst könnten sie ja nicht konsumieren) und im Umfeld der Drogenszene und der Einrichtungen Drogenvermittlungsgeschäfte tätigen.

Die Drogenpolitik auf Bundesebene hat es versäumt, hier eindeutig rechtliche Rahmenbedingungen zu schaffen, welche die Rechtssicherheit für Mitarbeiter/innen und Nutzer/ innen niedrigschwelliger Drogenhilfe und die Strafverfolgungsbehörden gewährleisten.

Die „Bielefelder Prozesse“ 2003 führten leider nicht zu einer notwendigen Klarstellung, so dass „Mainz“ passieren konnte. Die schon damals gemachten Forderungen sind noch immer aktuell und sollten zeitnah umgesetzt werden.

Damals wie heute fordert akzept e.V. und andere Fachverbände eine politische und juristische Klärung der rechtlichen Absicherung entsprechender Hilfsangebote durch das Bundesministerium für Gesundheit und die Bundesländer. Das Betäubungsmittelgesetz ist dahingehend zu ändern, dass ähnlich wie bei Spritzentauschprogrammen und Drogenkonsumräumen die Überlebenshilfen im niedrigschwelligen Drogenarbeitsbereich keinen Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz darstellen. Konkret bedeutet dies als ersten Schritt die Streichung des § 29.1.(10) BtMG, so wie es die Drogen- und Suchtkommission schon 2002 gefordert hat. Zumindest wäre aber die Ergänzung dieses Paragraphen durch folgenden Satz zwingend: „Dies gilt nicht für Mitarbeiter/innen im Rahmen staatlich geförderter Drogenhilfeangebote“.

Weiterhin fordern wir die Entpönalisierung konsumvorbereitender Handlungen wie Besitz und Erwerb als Herabstufung zu einer Ordnungswidrigkeit und die Einführung eines Opportunitätsprinzips auf polizeilicher Ermittlungsebene.

Mitarbeiter/innen und Konsument/innen müssen vor Strafverfolgungen, Verdächtigungen und Diskriminierungen geschützt werden. Ohne eine rechtliche Absicherung stehen alle Angebote der Drogenhilfe (Substitution, niedrigschwellige Hilfen, ambulante und stationäre Unterstützungen), insbesondere aber die Beschäftigten und Träger, unweigerlich weiterhin an der Grenze zur Illegalität mit allen Risiken strafund zivilrechtlicher Inanspruchnahme. Ohne eine rechtliche Änderung im Betäubungsmittelgesetz muss Drogenhilfe als bewährte Unterstützungsmaßnahmen im Hinblick auf Schadensminimierung, psychosoziale Stabilisierung und Ausstiegsförderung weiterhin unter dem nicht kalkulierbaren Risiko einer individuellen staatsanwaltschaftlichen Verfolgung arbeiten oder ihre Arbeit einstellen. Dies kann nicht gewollt sein.

Auch wenn der Vorfall sinnlos war und viele lang wirkende Kollateralschäden für Drogenkonsumierende und Hilfseinrichtungen verursacht, war der Einsatz ja nicht umsonst… der kostet nämlich richtig viel Geld: 100 Polizeibeamte am Ermittlungstag und erhebliche personelle Kapazitäten für Vorund Nachermittlungen; der Aufwand bei Gericht, Staatsanwaltschaft und für Anwälte… Da kommen beträchtliche Kosten zu Stande, die durch Steuermittel finanziert werden müssen, völlig ins Leere laufen und sich kontraproduktiv auswirken. Das alles war vorhersehbar und wird sich mit Sicherheit wiederholen, die Frage ist nur, wo und wann?

Dies ist ein kleines Praxisbeispiel für die zentralen Ergebnisse der IfT-Studie (Mostardt et al. 2009) zu den Ausgaben der öffentlichen Hand im Bereich illegale Drogen: 60-70 % der Mittel fließen in den Bereich Repression und nur 30-40 % in den Bereich der Hilfen.

Noch immer ist in Deutschland der Drogenkonsum und die Abhängigkeit von illegalisierten Drogen vor allem ein juristischer Akt; gesundheitspolitische Aspekte, Prävention und Hilfen spielen allenfalls eine begleitende Rolle, sind budgetabhängig und nicht bedarfsabhängig finanziert. Viel Geld wird für die Repression ausgegeben, welches an anderer Stelle bei Hilfsangeboten dringend benötigt wird.

Wollen wir uns das wirklich weiter leisten?

Quellen: Beschluss des Landgerichts Mainz im Revisionsverfahren gegen einen Mitarbeiter der Drogenhilfe vom 28.10.2013

Stellungnahme akzept e.V. zu den Vorfällen in Mainz: „Ungeschickt, unverhältnismäßig, unverschämt!“ vom 10.05.2013: http://www.akzept.org/pdf/drogenpolitik/akzeptPMm ainz10_05_12.pdf

Mostardt, S., Flöter, S., Neumann, A., Wasem, J. & Pfeiffer-Gerschel, T. (2009): Schätzung der Ausgaben der öffentlichen Hand durch den Konsum illegaler Drogen in Deutschland. Das Gesundheitswesen, 71, A190 4 I Internationales

147 Die Rede von Horst Kruse kann auf dem akzeptPortal bei You Tube angesehen werden: http://www.youtube.com/watch?v=Fkazoo1w-s8