Von Dirk Schäffer
Es ist Donnerstag, der 28. Mai 2009, 17:30 – der Deutsche Bundestag beschließt nach 45-minütiger Debatte, dass Heroin (Diamorphin) zur Substitutionsbehandlung eingesetzt werden darf und zukünftig über die gesetzlichen Krankenkassen finanziert werden soll. In namentlicher Abstimmung stimmten 349 Parlamentarier für den Gruppenantrag von SPD, FDP, LINKE, DIE GRÜNEN. Drei Parlamentarier enthielten sich der Stimme und 198 stimmten mit „Nein“.
Auch wenn die Euphorie dieses Tages gewichen ist, so muss rückblickend diese Abstimmung als wichtiger Schritt hin zu einer Weiterentwicklung der Behandlung der Opiatabhängigkeit in Deutschland gewertet werden.
Wie in Deutschland üblich, oblag es dem Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA), dem obersten Beschlussgremium der gemeinsamen Selbstverwaltung von Ärzten, Krankenhäusern und Krankenkassen, zu entscheiden, unter welchen Bedingungen die Behandlung mit Diamorphin von der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) übernommen wird.
Vertreter der Deutschen AIDS-Hilfe und des JES-Bundesverbands erhielten die Chance auf Seiten der Patientenvertretung im GBA für patientenorientierte Rahmenbedingungen der Diamorphinbehandlung einzutreten. Die Enttäuschung war umso größer als knapp ein Jahr später die Richtlinien des GBA bekannt wurden: Die Erstattungsfähigkeit der diamorphingestützten Substitutionsbehandlung durch die gesetzliche Krankenversicherung wurde an hohe Hürden geknüpft, die so vom Gesetzgeber nicht intendiert waren.
Einige Diskussionen im GBA erinnerten an ideologische Auseinandersetzungen, die bereits bei der Zulassung von Methadon zur Behandlung der Opiatabhängigkeit geführt wurden. Wo sich ansonsten die Mitglieder des GKV-Spitzenverbands und Vertreter der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) erbittert streiten, herrschte in Sachen „Diamorphin“ seltene Harmonie.
Der GBA knüpfte die diamorphingestützte Behandlung an grundsätzlich drei ärztliche Vollzeitstellen – und dies unabhängig von der Patientenzahl. Nur der deutlichen Kritik von Fachverbänden, der Wissenschaft, den an der Modellphase beteiligten Städten und Patientenorganisationen war es zu verdanken, dass das hochschwellige Regelwerk des GBA, das über die Bedingungen der Modellphase hinausging, im Jahr 2013 endlich verändert wurde.
Denn die Auswirkungen dieser Richtlinien waren katastrophal. Es entstand keine neue Einrichtung zur Diamorphinbehandlung, da die durch die GBA Richtlinien verursachten Personalkosten, insbesondere zum Beginn der Behandlung mit geringen Patientenzahlen horrend und nicht refinanzierbar schienen. An dieser Stelle gilt es der vielfach gescholtenen damaligen Bundesdrogenbeauftragten Mechthild Dyckmans Dank auszusprechen. Ihre Mitarbeiter(innen) kritisierten bereits im Gemeinsamen Bundesausschuss jene Regelungen, die eher ideologisch geprägt waren, und zitierten unablässig die Ergebnisse des Studienberichts.
Heute, etwas mehr als ein Jahr nach der punktuellen Anpassung der Richtlinien sind 2 neue Ambulanzen in Berlin und Stuttgart entstanden. Dies ist ein erster Erfolg, garantiert aber keineswegs eine bedarfsgerechte Versorgung. Hier gilt es den Blick über die Richtlinien des GBA hinaus zu werfen.
Heute wird die Kritik an den Richtlinien von einigen Kritikern unablässig fortgeführt. Ja, natürlich sind die sicherheitstechnischen Anforderungen recht hoch und kostenintensiv, aber es gilt, sich den etwas tieferliegenden Gründen für die noch fehlende Ausweitung der Diamorphinbehandlung zuzuwenden. So ist insbesondere in Reihen der substituierenden Ärzte eine deutliche Zurückhaltung oder gar Ablehnung gegenüber der Diamorphinbehandlung zu spüren. Wie ein grippaler Infekt überträgt sich die vielfach unberechtigte Kritik auch auf bereits substituierte Patienten, die sich für die Substitution mit Diamorphin interessieren .
Das Beispiel Berlin zeigt, wie es anders gehen kann und wie eine offene und vorurteilsfreie Haltung eine Situation grundlegend verändern kann. Hier gibt es einen jungen, engagierten Arzt, der von dieser Behandlungsform vollständig überzeugt ist. Ihm gelingt es mit seiner sympathischen und fachlichen Art ein Praxisteam zu bilden, das den Patienten und der Behandlungsform vorbehaltlos gegenübertritt. Mit ersten Behandlungserfolgen vollzieht sich auch innerhalb der Berliner Drogenszene und unter denjenigen, die bereits mit Methadon und anderen Medikamenten behandelt werden, eine spürbare Veränderung. Mythen und Halbwahrheiten wichen tatsächlichen und sichtbaren Behandlungserfolgen. Patienten sind sicherlich die wichtigsten Multiplikatoren, die ihre Erfahrungen an andere Opiatabhängige und Substituierte weitergeben. Die Folge sind lange Wartelisten zur Aufnahme in die Behandlung anstatt leerer Plätze.
Natürlich trug die Investitionsbeihilfe des Berliner Senats dazu bei, ein beispielhaftes Praxisambiente zu schaffen, aber dies ist nicht entscheidend für die Wartelisten und sehr zufriedene Patienten. Grundlage sind vielmehr beeindruckende Behandlungserfolge, die durch einen verbesserten Gesundheitszustand, eine Stabilisierung der sozialen Situation, sowie einer Steigerung der Lebensqualität zum Ausdruck kommen.
Um die Diamorphinbehandlung auf viele andere Städte auszuweiten, gilt es von der Behandlung überzeugte Ärzte zu finden, die wie andere Ärzte, die eine eigene Praxis eröffnen wollen, bereit sind ein finanzielles Risiko (das aber mit der langfristigen Behandlungsperspektive überschaubar scheint) einzugehen. Sie müssen mit ihrer Überzeugungskraft die Kommune oder das Land dafür gewinnen, eine einmalige Investitionsbeihilfe bereitzustellen.
Wir müssen uns aber auch die Frage stellen „was ist eigentlich der Unterschied zwischen Methadon und Diamorphin?“ Denn während die übliche Substitutionsbehandlung in der ärztlichen Praxis mit teilweise sehr geringen Sicherheitsstandards durchgeführt wird, werden für die Diamorphinbehandlung Sicherheitsstandards vorgeschrieben, die eine Kostenexplosion zur Folge haben und Experten völlig unangemessen erscheinen.
Wie z. B Methadon ist Diamorphin für opiatnaive Personen bereits in geringer Dosierung tödlich. Für opiatgewöhnte Personen hingegen sind beide Substanzen bei entsprechender Dosierung nicht lebensbedrohlich. Was sind also die Gründe, die die völlig unterschiedlichen Sicherheitsstandards insbesondere bei der Vergabe rechtfertigen? Sind es vielmehr die Mythen, die sich um Heroin als sofort abhängig machende oder gar tödliche Substanz ranken? Ist es die spürbare Ablehnung von Heroin (Diamorphin) als Medikament in Teilen der Politik, der Krankenkassen und der Medizin, das nun auch noch von den Krankenkassen zur Behandlung der Opiatabhängigkeit finanziert werden soll? Die Vorbehalte gegen diese Behandlung, die sich unter anderen in Slogans ausdrücken wie „Drogen auf Staatskosten“, „Suchtverlängerung“ und „das Ende der Abstinenz“ machen die fehlende Akzeptanz dieser Behandlungsform mehr als deutlich.
Was wird also benötigt, um die diamorphingestützte Substitutionsbehandlung all jenen zur Verfügung zu stellen, die sich für diese Behandlung entscheiden?
– Eine Bewertung der Behandlung durch Lobbygruppen, Medizinern und Politikern, die sich an den tatsächlichen Behandlungsergebnissen orientiert und nicht moralische oder ideologische Grundlagen hat,
– eine Überprüfung der GBA-Richtlinien auf Grundlage medizinisch-wissenschaftlicher Erkenntnisse, Praxiskompatibilität und Patientenorientierung,
– eine kritische Überprüfung und Weiterentwicklung der Sicherheitsstandards und
– die Zulassung weiterer Darreichungsformen wie z.B. Tabletten sowie die Zulassung von weiteren Applikationsformen (z.B. oral, subkutan)
Insbesondere gilt aber, dass all jene zusammenstehen, die diese Behandlungsform positiv bewerten, weil sie als Ärzte und Patienten, als Wissenschaftler und Politiker die gesundheitlichen und sozialen Effekte sehen und dazu beitragen wollen, dass jeder Opiatkonsument und jede Opiatkonsumentin, die die Diamorphinbehandlung für sich als Weg wählen, eine Behandlungsmöglichkeit erhalten.