Von Marco Jesse
Die positiven Effekte der Selbsthilfe im Drogenbereich sind seit Jahren bekannt und akzeptiert. Eine deutliche Stärkung im Wunsch nach Konsumkontrolle oder Abstinenz ist hier ebenso zu nennen wie Verbesserungen des physischen und psychischen Zustandes.
Der Drogenselbsthilfeverband „JES Junkies, Ehemalige und Substituierte“ vereint landesweite Zusammenschlüsse, verschiedene regionale Gruppen und Einzelaktivisten zu einem einmaligen Netzwerk. Bestimmte Zielgruppen werden durch JES wesentlich besser erreicht als über sonstige Zugangswege, was aus dem Blickwinkel der Schadensminimierung und der HIVund HepatitisPrävention von besonderem Wert ist. Die eigentliche Besonderheit dieses Selbsthilfezusammenschlusses ist jedoch der Respekt vor jeglicher Entscheidung des Einzelnen – auch der Entscheidung, mit Drogen leben zu wollen. Die Bereitschaft, Drogenkonsum als Teil des Lebensstils mit allen daraus folgenden Konsequenzen zu akzeptieren und dafür einzutreten, dass die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen dem nicht entgegenstehen, ist ein wesentliches Charakteristikum von JES. Das Recht auf Selbstverwirklichung (bis hin zur Selbstschädigung) ist einer unserer gesellschaftlichen Grundbausteine.
Daraus folgt für JES ein klarer Auftrag: Es gilt den gesetzlichen und gesellschaftlichen Rahmen so zu gestalten, dass der Konsum psychoaktiver Substanzen kontrolliert möglich ist. Konkret bedeutet dies die Abschaffung der strafrechtlich relevanten Anteile des BtmG zugunsten einer Regulierung über die „normalen“ Wege des Verbraucherschutzes, der Gesundheitsfürsorge, der Straßenverkehrsordnung usw., usw. Derartige Forderungen finden sich in keiner anderen drogenbezogenen Selbsthilfe. Betrachtet man die deutsche Realität, könnte der Eindruck entstehen, dass die Einbeziehung von Betroffenenkompetenz an diesen Stellen nach wie vor eine „Feigenblattfunktion“ hat. Obwohl der JES-Bundesverband die Qualität und Konstanz seiner Arbeit über nahezu ein Vierteljahrhundert unter Beweis gestellt hat und so mit einzelnen Projekten auch Erwähnung im Drogenund Suchtbericht der Bundesregierung fand, ist es bisher nicht gelungen, die Arbeit des Bundesverbands personell und strukturell abzusichern. Öffnet man den Blick und schaut über die Grenzen Deutschlands hinaus, wird ein weiteres Mal deutlich, dass eine stabile Unterstützung von JES sinnvoll ist. . Angesichts dessen, dass Deutschland eine zentrale Rolle in der europäischen Politik zukommt, muss sich Deutschland auch daran beteiligen, europaweite Selbsthilfestrukturen zu entwickeln und zu fördern. Hierfür wiederum ist eine aktive und starke Selbsthilfe im Land unerlässlich und die gibt es nicht zum Nulltarif.
Die Chancen, die sich durch eine enge Einbeziehung von akzeptierender Selbsthilfe ergeben, sind die Bemühungen wert. Es ist noch ein weiter Weg zurückzulegen bis hin zu einer grundsätzlich anderen Drogenpolitik ohne Abstinenzparadigma und ein noch weiterer Weg hin zu einer gesellschaftlichen Akzeptanz von Drogenkonsum.
Eine Vielzahl von Themenfeldern kann auf diesem Weg von den Sichtweisen der Betroffenen profitieren. So konnten Defizite in der Substitutionsbehandlung frühzeitig identifiziert und angegangen werden. Über Befragungen der JES-Mitglieder und ihres Umfelds, ergänzt durch Erfahrungsberichte der Patienten, konnten fehlende Behandlungszugänge ebenso erkannt werden, wie Herausforderungen in anderen Bereichen. Die erlangten Erkenntnisse fanden z.B. Berücksichtigung bei der Gestaltung einer (europäischen) Internetseite zur Substitutionsbehandlung (http://meinebehandlungmeinewahl.eu/).
Dort können sich Opiatabhängige aus allen beteiligten Ländern über die Behandlungszugänge und -konditionen in ihrem Land umfassend und neutral informieren. Die Seite stellt so eine unmittelbare Hilfe für die Betroffenen dar. Ähnliches gilt für die Therapie der chronischen Hepatitis C. Auch hier bietet der unmittelbare Kontakt zu den Usern die Möglichkeit, Präventionskonzepte zu entwickeln und/oder zu verbessern. Besonders problematisch ist hier das völlige Fehlen jeglicher Instrumente zur Schadensminimierung in den bundesdeutschen Haftanstalten. Diese Versorgungslücke öffnet (Re-)Infektionen Tür und Tor. Vor dem Hintergrund, dass die Therapiemöglichkeiten sich in den letzten 2-3 Jahren erheblich verbessert haben, ist dies ein geradezu skandalöser Zustand. Heute ist es möglich, mit den zur Verfügung stehenden Kombinationstherapien Heilungsquoten von über 75% zu erreichen. Die Behandlungen sind aber mit erheblichen Kosten verbunden und für die Patienten extrem anstrengend. Umso wichtiger ist es daher, Reinfektionen zu vermeiden. Spritzentauschangebote in den Vollzugsanstalten wären hierzu eine ideale Voraussetzung. Nicht nur diese praktischen Felder bedürfen der Aufmerksamkeit – auch der alltäglichen Stigmatisierung von Drogengebrauchern tritt JES mit seiner Arbeit entgegen. Deren Folgen für den Einzelnen sind massiv und führen direkt in die soziale Isolation. Die permanente Diffamierung von Menschen als defizitär und krank widerspricht dem Recht auf Menschenwürde und bildet bei weitem nicht die Realität ab. Im Gegenteil, sie resultiert aus der Fokussierung auf jenen Teil der Drogen gebrauchenden Menschen, die (zu bestimmten Zeitpunkten) Unterstützung und Hilfe bedürfen.
Genauso dramatisch ist dieser allgemeine Umgang mit dem Thema Drogengebrauch für die präventive Arbeit. Dies erschwert die Zugänge und fördert den Konsum und das „Ausprobieren“ auf eigene Faust und im Geheimen.
So bleiben für die akzeptierende Drogenselbsthilfe „JES Junkies, Ehemalige und Substituierte“ auch in den kommenden Jahren mehr als genug Herausforderungen zu bewältigen. Die Unterstützung und Wertschätzung dieses Einsatzes auf der politischen Ebene wäre ein Schritt in die richtige Richtung.