Von Rainer Ullmann
Der §5 der Betäubungsmittelverschreibungsverordnung (BtMVV) („Verschreiben zur Substitution“) greift weit in ärztliche Behandlungsmodalitäten ein. Verstöße gegen diese Regelungen sind nicht strafbewehrt, aber trotzdem werden viele Ärzte wegen Verstößen gegen diese nicht strafbewehrten Regelungen verurteilt. Der Bundesgerichtshof (BGH) hat in mehreren Entscheidungen diese Urteile bestätigt.
1991 hatte der BGH auf die notwendige Gesetzesbestimmtheit hingewiesen und gefordert, an die Erfüllung des Tatbestandsmerkmals „keine Begründetheit der Anwendung am oder im menschlichen Körper“ (BGH 1991) strenge Anforderungen zu stellen, damit der Arzt weiß, wann er sich beim Verschreiben von Ersatzdrogen strafbar macht. Diese Vorgabe des BGH 1991 wird in vielen aktuellen Verfahren missachtet. Es ist für juristisch nicht vorgebildete Ärzte nicht leicht zu erkennen, dass sie sich durch Verstöße gegen nicht strafbewehrte Regelungen strafbar machen. Im §5 BtMVV sind explizit als Straftaten nur 2 Tatbestände sanktioniert: der Verzicht auf das Abstinenzziel und die Verordnung anderer als der ausdrücklich zur Substitution zugelassenen Betäubungsmittel.
Beides ist medizinisch nicht begründet:
Abstinenz kann oft nicht erreicht werden und prinzipiell sind alle Opiate zur Substitution des illegalen Heroin geeignet. In anderen Ländern werden auch andere Opiate als die nach der BtMVV erlaubten erfolgreich zur Substitutionsbehandlung eingesetzt. Die Regelungen der Behandlungsmodalitäten sind dagegen nicht strafbewehrt, worauf die ehemalige Drogenbeauftragte Caspers-Merk in der Antwort auf eine Kleine Anfrage hinwies (Caspers-Merk 2007).
Wenn Ärzte nicht sorgfältig arbeiten, kann das berufsrechtlich geahndet werden. Strafrechtlich werden sonst ärztliche Behandlungsfehler nur verfolgt, wenn ein Patient geschädigt wurde. In mehreren Bundesländern werden substituierende Ärzte bei Verstößen gegen die nicht strafbewehrte Mitgaberegelung verurteilt, auch wenn ihnen keine Schädigung des Patienten oder Dritter vorgeworfen wird. Richter verzichten manchmal auf sachkundige Gutachter und begründen das Urteil dann nicht sachgerecht. So heißt es in der Urteilsbegründung eines bayerischen Landgerichts (LG): „Dem Angeklagten stehen in keinem der Fälle Rechtfertigungsoder Entschuldigungsgründe zur Seite. Alleine die Inkaufnahme langer Anfahrtswege, das Interesse der Patienten an der Beibehaltung eines Arbeitsplatzes oder die Gefahr eines Wiederabgleitens in das Drogenmilieu rechtfertigen es nicht, von den genannten Regeln abzuweichen. Die Methadonsubstitution beinhaltet ein hohes Gefährdungspotential und ist nur unter enger ärztlicher Kontrolle und Begleitung zulässig.“ (LG Bayreuth 2007)
Die Lösung von der Drogenszene oder die Beibehaltung eines Arbeitsplatzes sind wesentliche Therapieziele bei der Behandlung von Heroinabhängigen; sie können nicht weniger wichtig sein als die „einschlägigen Vorschriften“. Das LG hätte auch wissen können, dass die Substitutionsbehandlung keine tödliche Gefahr ist, sondern die Sterblichkeit der Heroinabhängigkeit dramatisch senkt. Der Arzt wurde wegen 282 Straftaten, begangen bei der Behandlung von 10 Patienten, zu 20 Monaten Haft auf Bewährung verurteilt. Ihm wurde in keinem Fall vorgeworfen, einen Patienten geschädigt zu haben.
Auch die Urteilsbegründung eines anderen LG zeigt, dass ein suchtmedizinisch fundiertes Gutachten sinnvoll gewesen wäre, z.B., wenn das LG schreibt: „Das gesetzlich vorgeschriebene Ziel der Betäubungsmittelabstinenz wurde vom Angeklagten nicht ernsthaft verfolgt. … In der Regel wurden die Patienten über einen langen Zeitraum (teilweise mehrere Jahre) mit nahezu unveränderter Dosis substituiert.“ (LG Verden 2008) Es ist suchtmedizinisches Grundwissen, dass eine Substitutionsbehandlung oft jahrelang mit einer möglichst stabilen hohen Dosis durchgeführt werden muss, um gute Behandlungsergebnisse zu erzielen. Dann behauptet das LG, nach der BtMVV sei bei Beikonsum die Verschreibung nicht mehr zulässig: tatsächlich erlaubt die BtMVV die Verschreibung eines Substitutionsmittels, solange der Patient nicht Stoffe konsumiert, die ihn zusammen mit der Einnahme des Substitutionsmittels gefährden.
Auch bei der Mitgabe wird die BtMVV nicht immer korrekt zitiert. Sie fordert nicht bei jedem Beikonsum, die Mitgabe zu beenden, sondern nur dann, wenn der Patient Stoffe konsumiert, die ihn zusammen mit der Einnahme des Substitutionsmittels gefährden. Als Voraussetzung für eine Mitgabe wurde schon 1998 (10. BtMÄndV) gefordert, dass der Beigebrauch nachhaltig reduziert wurde – nicht, dass er vollständig eingestellt wurde.
Manchmal werden fachfremde Ärzte als Gutachter bestellt. In Niedersachsen wurde ein Kardiologe, der beim Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) angestellt ist, eng mit der Ermittlungsgruppe für Abrechnungsbetrug der AOK zusammenarbeitet und keine eigene Erfahrung in der Substitutionsbehandlung hat, von mehreren Staatsanwaltschaften mit der Begutachtung von Substitutionsbehandlungen beauftragt. Er ist im Auftrag der Staatsanwaltschaft auch ermittelnd tätig geworden und hat in seinem Gutachten rechtliche Bewertungen abgegeben. Das ist juristisch nicht korrekt. In seinen Gutachten rechnet er z.B. die Gesamtmenge des in mehreren Jahren verschriebenen Methadons zusammen und berechnet daraus, wie viele gesunde Menschen lebensbedrohlich oder tödlich damit intoxikiert werden könnten. Diese Berechnung ist völlig unsinnig und zeigt die Voreingenommenheit des Gutachters. Nur in einem einzigen Verfahren wurde er wegen der Besorgnis der Befangenheit abgelehnt.
Ärzte dürfen Betäubungsmittel (BtM) nach dem Betäubungsmittelgesetz nicht abgeben nur aus der Apotheke darf auf ärztliches Rezept abgegeben werden. Nach dem Buchstaben des Gesetzes wird ein Arzt wie ein Dealer mit illegalem Heroin behandelt, wenn er dem Patienten einzelne Tagesdosen des Substitutionsmedikaments aushändigt, das er aufgrund seiner Verschreibung aus der Apotheke erhalten hat. International ist die Abgabe aus der Behandlungseinrichtung üblich und sollte in einem Referentenentwurf für eine Novellierung der BtMVV vom 3.12.07 auch in Deutschland ermöglicht werden. Der BGH hat 2008 und 2009 entschieden, dass sich ein Arzt nach geltendem Recht strafbar macht, wenn er Betäubungsmittel (BtM) an drogenabhängige Patienten zur freien Verfügung abgibt.
Bei Todesfällen durch mitgegebene Substitutionsmedikamente wurde oft der behandelnde Arzt für das Fehlverhalten des Patienten verantwortlich gemacht – wenn z.B. der Patient das Medikament spritzt statt es am folgenden Tag zu trinken oder wenn er es an Dritte weitergab. 2008 hatte der BGH das Urteil eines LG bestätigt. Eine eigenverantwortliche Selbstschädigung habe nicht vorgelegen. Diese Rechtsprechung hat der BGH in 2 neueren Urteilen 2014 geändert und auf die eigene Verantwortung des Patienten hingewiesen.
Da nicht die Behandlung eines Patienten, sondern jede einzelne Verschreibung als eine Straftat gilt, wird wegen mehrerer Hundert Straftaten vor dem Landgericht angeklagt. Damit entfällt die Berufung vor einer weiteren Tatsacheninstanz; es ist nur Revision vor dem Bundesgerichtshof möglich.
Meist sprechen die Richter ein eingeschränktes Berufsverbot aus, das sich auf die Substitutionsbehandlung bezieht und verzichten auf ein allgemeines Berufsverbot.
Allerdings wird bei jeder Vorstrafe ein Verfahren zum Entzug der Approbation eingeleitet; es endet bei den Ärzten, die wegen Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz verurteilt wurden, meist mit dem Widerruf der Approbation wegen Unwürdigkeit. Empörung hat in Bayern das Verfahren gegen eine Ärztin ausgelöst, deren Approbation wegen Unzuverlässigkeit und Unwürdigkeit von der Regierung von Niederbayern widerrufen wurde. Begründet wurde das mit der Behauptung, sie hätte wegen eines „ärztlich nicht mehr beherrschbaren Beigebrauchs die Behandlung beenden müssen.“ (Regierung von Niederbayern 2007) Nachgewiesen wurde meist der Beikonsum von Cannabis und Benzodiazepinen; dieser begründet nach Richtlinien der Bundesärztekammer nicht den Abbruch der Behandlung. Für die bayerische Justizministerin ist die Substitutionsmedizin mit gesundheitlichen Risiken verbunden und deshalb an strenge Voraussetzungen geknüpft. Sie fordert deshalb konsequente, bei Vorsatz auch strafrechtliche Sanktionen (SZ 2012)– und ein Vorsatz ist nach der BGH-Entscheidung 2011 jedem substituierenden Arzt zu unterstellen. Folge ist, dass besonders in ländlichen Regionen nur noch wenige Ärzte bereit sind, Substitutionsbehandlungen durchzuführen. Die Substitutionsbehandlung senkt die Sterblichkeit der Heroinabhängigkeit. Dass die Zahl der Drogentoten in Bayern nicht wie in den meisten anderen Bundesländern sinkt, kann an der mangelnden Verfügbarkeit der Behandlungsplätze liegen.
Wenn man bedenkt, dass die Zahl der substituierten Patienten seit 1991 von wenigen Hundert auf 70000 gestiegen ist und dass in dieser Zeit
– die Zahl der Drogentoten von über 2000 auf etwa 950 gesunken ist,
– die Zahl der polizeibekannten Erstkonsumenten von Heroin von 10000 auf 3000 jährlich gesunken ist,
– die Zahl der polizeibekannten Erstkonsumenten von Substitutionsmedikamenten so gering ist, dass sie in den Polizeistatistiken nicht erfasst wird,
dann wird deutlich, dass substituierende Ärzte nicht zur Ausbreitung der Betäubungsmittelabhängigkeit beitragen. Es ist daher nicht zu begreifen, dass sie so hart mit Berufsverbot und Strafhaft verfolgt werden.
Die strafrechtliche Verfolgung von substituierenden Ärzten führt dazu, dass in einigen Regionen keine Substitutionsbehandlungen mehr angeboten werden. Hier wird der Schaden durch die Strafverfolgung deutlich. Abhilfe kann durch eine Schulung der Staatsanwälte, Richter und der Approbationsbehörden geschaffen werden; diese sollen wissen, dass Abweichungen von bestimmten Vorschriften nicht die ganze Behandlung unbegründet machen. Außerdem sollten Behandlungsmodalitäten nicht in der BtMVV geregelt werden.
Die Überprüfung der Qualität der ärztlichen Arbeit ist eine primär ärztliche Aufgabe. Es ist nicht sinnvoll, Abweichungen von den jeweils gültigen Behandlungsrichtlinien strafrechtlich zu verfolgen – medizinischer Fortschritt entwickelt sich durch die offene Diskussion über verschiedene Behandlungsansätze. Die Substitutionsbehandlung war lange strafrechtlich verboten und ist jetzt die Standardbehandlung der Heroinabhängigkeit. Die Mitgaberegelungen sind in den vergangenen 20 Jahren mehrfach geändert worden.
Die Anwendung von Strafrecht gegen substituierende Ärzte verstößt auch gegen das Übermaßverbot. Strafrecht ist ultima ratio staatlicher Sanktionen. Es ist nur dann gerechtfertigt, wenn ein bestimmtes Verhalten in besonderer Weise sozialschädlich, seine Verhinderung daher besonders dringlich und nicht anders als mit Strafrecht zu erreichen ist. Anders als Ende des 19. Jahrhunderts bei der Abhängigkeit von Morphin ist die Ausbreitung der Abhängigkeit von illegalem Heroin nicht den Ärzten anzulasten. Diese Abhängigkeit entsteht, weil Heroin trotz der Prohibition auf den Straßen verfügbar ist. Die Substitutionsbehandlung lindert die Schäden der Abhängigkeit von illegalem Heroin. Da Ärzte mit verwaltungsrechtlichen Maßnahmen (Entzug der Substitutionsgenehmigung, Entzug der BtM-Rezepte) davon abgehalten werden können, ihre Privilegien im Umgang mit BtM zu missbrauchen, ist Strafrecht nicht erforderlich und entspricht damit nicht dem grundgesetzlichen Gebot der Verhältnismäßigkeit.
Literatur
10. BtMÄndV vom 20.1.1998, Begründung BGH 1 StR 389/13 Beschl. vom 16.01.2014 (LG Augsburg)
BGH 1 StR 494/13 vom 28. Januar 2014 (LG Deggendorf) BGH 2 StR 577/07 vom 4. Juni 2008 (LG Hanau) BGH 3 StR 44/09 vom 28.7.2009 (LG Verden) BGH Beschluss 3 StR 8/91 vom 17.5.1991. NJW 1991, 2359
Caspers-Merk, M. (2007): Antwort auf eine kleine Anfrage betreffend die Verbesserung der Versorgungsqualität in der Substitutionsbehandlung für Opiatabhängige. BT-Drucksache 16/6508
Landgericht Bayreuth: 1 KLs 113 Js 5114/04 vom 24.10.2007 Landgericht Verden: 421 Js30197/04 vom 6.8.2008
Regierung von Niederbayern: Widerruf der Approbation als Ärztin, Bescheid vom 10.7.2012
SZ (2012): Drogenärzte auf der Anklagebank. 30.10.2012, http://www.sueddeutsche.de/bayern/mediziner-imkonflikt-mit-der-justiz-drogenaerzte-auf-deranklagebank-1.1509961 Mediziner im Konflikt mit der Justiz Drogenärzte auf der Anklagebank