Drogen und Strafverfolgung – Plädoyer für einen Paradigmenwechsel

Von Holger Gundlach

„Es ist das Ziel der Bundesregierung, den Konsum illegaler Drogen mit allen seinen negativen gesundheitlichen und gesellschaftlichen Auswirkungen zu verringern und deren Verfügbarkeit durch Verfolgung des Drogenhandels einzuschränken.“ So steht es im Drogenund Suchtbericht des Vorjahres 92 und so – oder so ähnlich – wird es auch im demnächst erscheinenden aktuellen Bericht stehen. Auf die Deklamation des Mantras von den drei oder vier bewährten Säulen der Drogenpolitik – Prävention, Therapie/ Beratung/(Überlebens)Hilfe,Repression/ Angebotsreduzierung – wurde zwar verzichtet, es existiert aber nach wie vor in den Köpfen und schimmert durch Struktur und Inhalt des Berichts durch: Nur nichts verändern – weiter wie bisher! Die Säulen aber markieren nur die Wege, sie definieren nicht das Ziel. Hier darf nicht mit der fernöstlichen Weisheit „Der Weg ist das Ziel“ operiert werden. Ohne Vorhandensein und Beachtung eines angestrebten Gesamtziels besteht die Gefahr, dass wegspezifische Ziele gebildet werden, die in Konkurrenz und/oder Widerspruch zueinander stehen, Hindernisse auf den jeweils anderen Wegen aufbauen und unerwünschte Nebenwirkungen hervorbringen. Überlegungen, die ein Zurückfahren des strafrechtlichen Ansatzes auch nur diskutieren: Fehlanzeige.

Dem Mainstream der Drogenpolitik mangelt es an Ideologiefreiheit, Rationalität, Schlüssigkeit, Glaubwürdigkeit und Zielklarheit! Oder ist es z.B. rational und glaubwürdig, den Umgang mit bestimmten Drogen als Straftat zu definieren, die so entstandene Kriminalität als Problem zu identifizieren und dann die optimale Bekämpfung dieser Kriminalität zum Ziel zu erklären?

Es ist ja richtig: Entkriminalisierung bzw. Legalisierung des z.Z. mit Strafe bedrohten Umgangs mit Drogen würden Probleme mit sich bringen. Aber: Ist es nicht aller Mühen wert, nach Lösungen dieser Probleme zu suchen? Ist der Einsatz des Strafrechts zur Minderung des Drogenkonsums unproblematisch? Werden die Risiken und Nebenwirkungen des strafrechtlichen Bekämpfungsansatzes gebührend beachtet?

Geprägt durch meine frühere Funktion und Verantwortung als Leiter des Drogendezernats und verschiedener Referate der Grundsatzabteilung des LKA Hamburg, insbesondere durch intensive Beschäftigung mit den Themen Substitution und Drogentod, bin ich zu der Überzeugung gekommen, dass ein Paradigmenwechsel unumgänglich ist:

Die polizeilichen und justiziellen Aktivitäten sind sehr personal/ kostenintensiv und im Hinblick auf die beabsichtigte Eindämmung des Drogengebrauchs relativ wirkungslos. Sie führen aber zu einer Fülle von Ermittlungsverfahren wegen bloßen Besitzes illegaler Drogen und zur Überfüllung der Haftanstalten mit Drogenkonsumenten und Kleindealern. Und dies in einer Zeit, in der Polizei und Justiz die Grenzen der Belastbarkeit wegen der zur Sanierung der Länderhaushalte erforderlichen personellen Einsparungen erreicht und zum Teil überschritten haben.

Drogen und Strafverfolgung – mein Standpunkt
Die Drogenproblematik liegt längst nicht mehr allein in der Rauschgiftsucht sowie den suchtund konsumbedingten individuellen und sozialen Schäden, sondern zunehmend in den durch den strafrechtlichen Bekämpfungsansatz – unbeabsichtigt – ausgelösten Folgen. Die abhängigen und nicht abhängigen Konsumenten können sich, sofern sie nicht substituiert werden, ausschließlich auf einem illegalen Markt versorgen. Dies führt einerseits zu horrenden Endverbraucherpreisen mit der in der Regel zwangsläufigen Folge von Beschaffungskriminalität, -prostitution und/oder Drogenkleinhandel, andererseits zu erheblichen Gewinnspannen für die ,,Großhändler“. Deren Gewinne sind umso höher, je besser der Handel organisiert und je größer der Marktanteil ist. Dies führt zu einer Verfestigung der Strukturen und zu Verbindungen über das Rauschgiftgeschäft hinaus (Terrorismus, Waffenhandel, Organisierte Kriminalität, Einfluss in Wirtschaft und Politik). Wohin es führt, (vermeintliche) psychosoziale Probleme mit den Mitteln des Strafrechts lösen zu wollen, hat die Alkohol-Prohibition in den USA gezeigt.

Rauschgiftabhängigkeit ist eine Krankheit – ob selbst verschuldet oder nicht, spielt dabei keine Rolle –, die der Abhängige ohne fremde Hilfe meist nicht oder zumindest erst nach langen Jahren überwinden kann. Durch Drogenkonsum gefährdet der Süchtige unmittelbar nur sich selbst. Zur Gefahr für andere wird er erst, wenn er das Geld für Rauschgift wegen der hohen Kosten und/oder Arbeitsunfähigkeit nicht mehr legal erlangen kann (direkte oder indirekte Beschaffungskriminalität) oder wenn er unter Betäubungsmitteleinfluss Auto fährt pp.

Allerdings: Es entsteht Schaden für die Gesellschaft durch rauschgiftbedingte Verwahrlosung und Krankheiten. Ähnliche Gefahren und Schäden entstehen aber auch durch Missbrauch legaler Drogen (Alkohol, Nikotin, Medikamente) sowie durch sonst unvernünftiges – oder sogar allgemein übliches – Verhalten. Einige Schlaglichter aus Deutschland 2012: • Etwa 110 000 Bürger starben an den Folgen des Rauchens. 93
• Über 74.000 Alkoholtote waren zu beklagen. 94
• 3.600 Todesopfer forderte der Straßenverkehr. 95

Zum Vergleich: 2012 waren 944 Drogentote zu verzeichnen. 96

Rauschgiftsucht – ein komplexes Problem
Das Drogenproblem ist nur ganz zuletzt ein Problem der Polizei. Vielmehr handelt es sich um ein gesamtgesellschaftliches Problem, zu dessen Lösung in erster Linie die Bürger, Behörden und Institutionen – und Politiker! – mit Verantwortung im sozialen, gesundheitlichen und erzieherischen Bereich aufgerufen sind. Die Drogensucht kann mit polizeilichen und justiziellen Mitteln nicht wirksam bekämpft – geschweige denn beseitigt – werden. Ihre Pönalisierung hat kaum positive, dafür aber bislang vernachlässigte negative Auswirkungen.

Die Komplexität des Beziehungsgeflechtes aus
•Konsum,
•Abhängigkeit,
•Illegalität des Rauschgiftmarktes,
•Entwicklung und Verfestigung krimineller Strukturen, •Beschaffungskriminalität,
•allgemeiner Kriminalität,
•Prostitution,
•Organisierter Kriminalität,
•Strafvollzug, •Prävention,
•drogenfreier Therapie,
•Substitutionstherapie,
•polizei und strafrechtlichen Maßnahmen,
•gesellschaftlichen Verhältnissen und
•Ausbau polizeilicher und justizieller Befugnisse und Möglichkeiten

erfordert angesichts der Entwicklung der Drogensucht in den letzten Jahren und des beängstigenden Ausblicks in die Zukunft eine neue (?) Zielbestimmung und eine neue Strategie. Hierbei darf es keine Tabus geben: In Anbetracht der Lage ist es verfehlt, die alten Wege lediglich mit „more of the same“ planieren zu wollen.

Neue Denkansätze
Die inzwischen auch von vielen einstigen Gegnern akzeptierte methadongestützte Substitutionstherapie war ein erster Schritt. Die zunächst nur zögerlich umgesetzte Erlaubnis, Drogenkonsumräume einzurichten 97 und sterile Einwegspritzen auszugeben 98 , waren wichtige und durchaus große Schritte. Die schon weniger angenommenen Möglichkeiten, Drogenkonsumräume einzurichten und sterile Einwegspritzen auszugeben sind fast schon als Sprünge zu bezeichnen. Mit dem Heroinprojekt wurde 2002 der Fuß zu einem weiteren Schritt gehoben und endlich 2009 mit der Regelung zur Substitutionsbehandlung mit Diamorphin (nichts anderes als Heroin) auf gesetzlichem Boden aufgesetzt 99 .

Der Paradigmenwechsel wurde also schon schleichend eingeleitet. Jetzt gilt es, überkommene Denkstrukturen weiter aufzubrechen sowie kritisch analysierend Althergebrachtes in Frage zu stellen und auch das ,,Undenkbare“ (Entkriminalisierung des Rauschgiftkonsums, partielle Legalisierung und/oder staatlich kontrollierte Drogenabgabe) nicht nur abseits des Mainstreams 100 unvoreingenommen zu durchdenken. Nur mit einem fundierten neuen Denkansatz hat unsere Gesellschaft noch eine Chance im Kampf gegen die organisierte Drogenkriminalität, die Beschaffungskrimi-nalität und gegen die Drogensucht als solche. Die Vorund Nachteile dieses Ansatzes müssen so schnell wie möglich unter Berücksichtigung
– der Schädlichkeit des Drogenkonsums und seiner Folgen für den einzelnen,
– der Freiheit des einzelnen, sich selbst zu gefährden und zu schädigen,
– der Schädlichkeit der Folgen des Drogenkonsums für die Gesellschaft,
– der Schädlichkeit der Folgen der strafrechtlichen Bekämpfung der Drogensucht für den einzelnen und die Gesellschaft und
– der Pflicht des Staates, Schaden vom einzelnen und der Gesellschaft abzuwenden, im Gesamtzusammenhang des weiter oben beschriebenen Beziehungsgeflechtes sowie der darüber hinaus gehenden Wirkungen und Nebenwirkungen analysiert und gegen die Vorund Nachteile der gegenwärtig praktizierten Strategie abgewogen werden.

Bei dieser Analyse und Abwägung spielen neben objektiven Daten und Kausalbeziehungen subjektive Wertungen, Zielvorstellungen und Präferenzen eine große Rolle. Damit handelt es sich um einen überwiegend politischen und weniger wissenschaftlichen Vorgang. Wissenschaftler, Therapeuten, Kriminalisten, Juristen und Nicht-Fachleute sind also gleichermaßen kompetent, sich an diesem Disput zu beteiligen, solange sie sich an die Fakten und die Gesetze der Logik halten. Notwendig ist eine nüchterne, vorurteilsfreie und offene Betrachtung und Darstellung von Gesamtsituation, Grundpositionen, Argumentationen und Wertentscheidungen. Bei der Gesamtwürdigung wäre zu berücksichtigen, dass einst hierzulande auch Kaffeegenuss, Ehebruch und Prostitution strafbar waren und deren Entkriminalisierung nicht zum Zusammenbruch des Staates bzw. zum Untergang der Gesellschaft geführt hat.

Ein (Un-)Werturteil kann nicht allein durch die Pönalisierung eines Verhaltens zum Ausdruck gebracht werden. Dies wird auch durch die in der Vergangenheit vollzogenen Veränderungen bei der Strafbarkeit der Abtreibung deutlich. Auch aus verfassungsrechtlicher Sicht ist der Staat nicht verpflichtet, den Schutz von Leben und Gesundheit der Bürger (vor sich selbst) mit strafrechtlichen Mitteln zu betreiben – im Gegenteil: Das Verhältnismäßigkeitsprinzip gebietet, dass das Strafrecht notwendig und geeignet sein muss, das angestrebte Ziel zu erreichen und dass der 131  Nutzen der Pönalisierung ihre schädlichen Auswirkungen überwiegt (siehe auch Kamphausen in diesem Band). Aber nicht nur der repressive Bekämpfungsansatz muss überdacht werden. Auch Stellenwert, Art und Umfang von Therapie und Prävention bedürfen der kritischen Durchleuchtung: Wird hier nicht zu sehr instrumental, zu wenig systematisch gedacht und gehandelt? Sind die Ansätze ausreichend ursachenbezogen? Weiß man genug über Wirkung/Effizienz der Maßnahmen? Insbesondere hinsichtlich der Prävention ist zu fragen, ob nicht unter dem Zwang, überhaupt etwas tun zu müssen, Aktivitäten entwickelt wurden und werden, ohne dass ausreichende Basiskenntnisse – z.B. über die Einflüsse gesellschaftlicher Faktoren und sozialer Bedingungen – vorhanden sind.

Was wäre, wenn …?
… die „neuen Denkansätze“ zu dem Ergebnis führen,
-> Eindämmung des Drogenkonsums, Bewahrung Minderjähriger vor Drogenkonsum, Herausholen Abhängiger aus der Sucht, (Über-)Lebenshilfe für Konsumenten leisten als Ziel zu bestimmen?
-> dass die gegenwärtig praktizierte strafrechtliche Bekämpfung des Drogenproblems ineffizient ist und mehr schadet als nützt?

Dann ist die Entkriminalisierung jedweden Drogenkonsums 101 nur konsequent. In der Folge werden Polizei, Justiz und Strafvollzug nicht unerheblich entlastet.
Dies erfordert aber auch, den Handel aus der Illegalität heraus zu holen und in Bahnen zu lenken, die einem ordnenden Zugriff des Staates zugänglich sind. Verstöße gegen Handelsund Abgabevorschriften wären – ebenso wie Raub, Diebstahl und Betrug zur Beschaffung von Drogen oder entsprechenden Geldmitteln – auch strafrechtlich zu verfolgen.

Wenn – heute noch illegale – Drogen legal erworben werden können, gibt es keine Notwendigkeit mehr für einen Handelsplatz „offene Drogenszene“. Das Unsicherheitsgefühle auslösende Phänomen „JunkieGruppen im öffentlichen Raum“ 102 würde minimiert.
Das Ziel kann mittels Beratung, medizinischer und psychosozialer Betreuung sowie Bekämpfung sozialer und gesellschaftlicher Ursachen von Drogenmissbrauch ohne den Strafrechtsknüppel besser erreicht werden.

Dies alles kann und wird selbstverständlich nicht auf einen Schlag erfolgen. Ein eindeutiger Paradigmenwechsel erfordert politischen Mut und Gestaltungswillen. Die Umsetzung in gesetzgeberische und organisatorische Maßnahmen 103 bedarf einer projektmäßigen Vorbereitung und Steuerung unter besonderer Beachtung internationaler Zusammenhänge.
Dies ist ein langer und schwieriger – sehr schwieriger! – Prozess, aber „des Schweißes der Edlen“ wert.

92 Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung: Drogenund Suchtbericht der Drogenbeauftragten der Bundesregierung, 2013, Berlin: Bundesministerium für Gesundheit: S. 13
93 ebd.; S. 24
94 Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen: Daten/ Fakten: Alkohol, http://www.dhs.de/datenfakten/alkohol.html
95 Statistisches Bundesamt: Verkehr Verkehrsunfälle Fachserie 8 Reihe 7 – 2012 Wiesbaden: Destatis 2012, S. 44
96 Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung 2013: S. 37
97   § 10a BtmG; siehe auch Schäffer/ Köthner in diesem Band
98 § 29 (1) Satz 2 BtmG; siehe auch Leicht, Kapitel C2 in diesem Band
99 Gesetz zur diamorphingestützten Substitutionsbehandlung vom 15. Juli 2009 (BGBl I S. 1801)
100 z.B. https://www.gruenejugend.de//node/14169#gothere, Resolution deutscher Strafrechtsprofessorinnen und professoren an die Abgeordneten des Deutschen Bundestages (siehe auch Böllinger in diesem Band), http://www.globalcommissionondrugs.org
101 Man komme mir nicht mit dem Hinweis, der Konsum illegaler Drogen sei doch auch derzeit nicht strafbar. Diese dem Verfassungsrecht geschuldete Spitzfindigkeit des Gesetzgebers kann in der Lebenswirklichkeit getrost vernachlässigt werden.
102 Vgl.: Legge/Bathsteen, Kriminologische Regionalanalyse Hamburg Bd. 2, LKA Hamburg 1996, 206 und Bd. 3, LKA Hamburg 2001; Dörmann/Remmers, Sicherheitsgefühl und Kriminalitätsbewertung; BKA Polizei + Forschung, Neuwied/Kriftel 2000, S. 39 ff
103 In diesem Konversionsprozess ist darauf zu achten, dass die nicht mehr für die Verfolgung der Drogenkriminalität benötigten Kapazitäten in andere Schwerpunkte der   Verbrechensbekämpfung (z.B. Wohnungseinbruch, Straßenraub, Wirtschaftskriminalität) sowie in Drogenprävention und -therapie und -hilfe umgeleitet werden.