„Psychosoziale Betreuung“ in der Opioid-Substitutionsbehandlung

Von Ralf Gerlach und Heino Stöver

Die Opioid-Substitutionstherapie (OST) ist heute mit nur noch wenigen Ausnahmen (etwa Russland) – weltweit die Methode der Wahl in der Behandlung opioidabhängiger Menschen. Ihre Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit ist auch in Deutschland wissenschaftlich belegt. Die Kombination von medizinischer und pharmakologischer Behandlung mit psychosozialer Unterstützung erhöht nach aktuellem Wissensstand ihren Wirkungsgrad. Ein im internationalen Vergleich vorwiegend deutsches Spezifikum stellt jedoch die rechtsverbindliche Verknüpfung des medizinischen Teils der Behandlung mit psychosozialen Interventionsformen dar, die gemeinhin unter dem Titel „Psychosoziale Betreuung“ (PSB) geführt werden. In der Praxis erweist sich dieses rechtsverankerte Koppelungsmodell allerdings nicht selten als Hemmnis zur Behandlungsaufnahme oder –fortführung einer zum Teil lebensrettenden Therapie (Gerlach & Stöver 2009).

Unscharfe Definition von „PSB“
PSB ist ein Sammelbegriff für eine breite Palette möglicher psychologischer und sozialpädagogischer Maßnahmen, die idealiter am individuellen Patientenbedürfnis ressourcenorientiert und genderspezifische Aspekte berücksichtigend ausgerichtet werden.
Obwohl rechtlich und fachlich eingefordert, fehlt nach 25 Jahren Substitutionsbehandlung in Deutschland noch immer eine klare Definition dessen, wie dieses für den nichtmedizinischen Teil der Behandlung verwendete Standardkürzel arbeitsinhaltlich und methodisch ausgestaltet werden soll: Bundeseinheitlich akzeptierte fachliche Leitlinien seitens der Kostenträger und Leistungserbringer fehlen. So konnten sich auch die in der DHS zusammengeschlossenen Verbände nicht auf die Verabschiedung eines gemeinsamen Konsenspapieres zur PSB einigen. Es   bestehen lediglich ältere Versionen von Leitlinien von Fachverbänden (akzept e.V.; FDR) oder eher regional ausgerichtete Empfehlungen: So hat die Bayerische Akademie für Suchtund Gesundheitsfragen Empfehlungen für die psychosoziale Betreuung substituierter opiatabhängiger Frauen und Männer vorgelegt (Resing et al. 2014).
Allgemein gilt, dass im Zielfokus psychosozialer Unterstützungsangebote die Förderung eines menschenwürdigen, selbständigen Lebens unter psychosozialer und gesundheitlicher Stabilisierung steht (Normalisierung, Wiedereingliederung und Teilhabe).
Heterogene Versorgungslage
Zwar heißt es in den Richtlinien der Bundesärztekammer zur Durchführung der substitutionsgestützten Behandlung Opiatabhängiger vom 19.02.2010: „Gegenstand der psychosozialen Maßnahmen ist es, die Erreichung der individuellen Therapieziele durch geeignete Hilfen zu befördern. Dies erfordert die Einbeziehung von Einrichtungen und Professionen des Suchthilfesystems. Eine psychosoziale Betreuung (PSB) erfolgt nach den von der Drogenhilfe erarbeiteten Standards. Art und Umfang richten sich nach der individuellen Situation und dem Krankheitsverlauf des Patienten. Ihre Verfügbarkeit ist von den zuständigen Kostenträgern sicherzustellen.“ (Bundesärztekammer, 2010, S. 512)

Die konkrete Praxisumsetzung von PSB (Organisation und Finanzierung) gestaltet sich jedoch äußerst heterogen und ist durch eine Vielzahl an konzeptionellen Ansätzen gekennzeichnet, die sich bezüglich Inhalt, Zielfokus, Bedeutung, Stellenwert, Organisation, aber auch Finanzierung teils sehr deutlich voneinander unterscheiden. Menschenbild, Suchtverständnis und therapeutische Haltung der einzelnen Träger und Mitarbeiter führen zu unterschiedlichen Angeboten. Daneben haben sich differierende Organisationsformen entwickelt, in denen die Substitution und PSB angeboten wird (Schwerpunktpraxen, Hausarztpraxen, Substitutionsambulanzen, einzelfallfinanzierte aufsuchende PSB, pauschalfinanzierte Suchtberatungsstellen in Kooperation mit Ärzten etc.).

Die psychosoziale Betreuung – in ihrer spezifischen Organisationsform in Deutschland wurde jedoch nie umfassend auf ihre Effizienz und Nachhaltigkeit hin überprüft. Die Versorgungslage reicht von niedrigschwelligen, an Harm Reduction bis zu hochschwelligen an Abstinenz orientierten Betreuungsangeboten. Auch die Handhabung des Nachweises einer PSB zu Beginn und im Verlauf einer OST variiert regional, aber auch oft innerhalb einer Stadt erheblich und hängt maßgeblich von den Einstellungen der substituierenden Ärzte und der örtlichen Drogenhilfeträger ab, was in einer großen Variationsbreite der Versorgungsqualität resultiert. Versorgungsdiskrepanzen bestehen insbesondere zwischen urbanem und ländlichem Raum, sowie Freiheit und Haft.

Aktueller Forschungsstand
Der überwiegende Teil der Studien zur Evidenz-Basierung von PSB stammt aus dem USamerikanischen Raum. Eine Generalisierbarkeit der Ergebnisse für die Bedingungen in Deutschland unterliegt daher erheblichen Einschränkungen. Unter diesem Vorbehalt lässt sich zusammenfassen, dass eine Kombination von pharmakologischer Behandlung mit psychosozialen Interventionen, vor allem Beratungsangeboten, Verhaltenstherapie und Contingency Management, bessere Ergebnisse in Bezug auf Haltequote, Compliance, Reduktion des primären Substanzgebrauches, psychiatrischer Symptomatiken und der Schwere der Abhängigkeit aufweist, als eine pharmakologische Behandlung allein (Wessel 2009). In Deutschland liegt bisher allerdings keine differenzierte Forschungsarbeit vor, die für Ausgestaltung, Zeitpunkt, Zeitdauer und Intensität der PSB realistische Planungsgrößen liefern könnte.

Die deutsche Heroinstudie zeigt, dass die Nutzer der PSB günstigere Behandlungsergebnisse zeigen als Nichtnutzer. Das Problem bei einer heterogenen Patientenschaft ist, dass es keine Hinweise darauf gibt, welche Betreuungsformen und psychosoziale Interventionen für welche Klientengruppen wann indiziert sind und wie lange durchgeführt werden müssen.
Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses zur substitutionsgestützten Therapie Opiatabhängiger
Gemäß der Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses zur substitutionsgestützten Behandlung Opiatabhängiger (G-BARichtlinie) hat der Arzt ein Therapiekonzept zu erstellen, das die Ermittlung des Hilfebedarfs an PSB durch eine psychosoziale Drogenberatungsstelle beinhalten muss. Der Dokumentation des Arztes muss darüber hinaus eine aktuelle schriftliche Bestätigung der psychosozialen Beratungsstelle über die Aufnahme, die Fortführung oder die Nichterforderlichkeit einer PSB beigefügt werden. In vielen Bezirken der Kassenärztlichen Vereinigungen ist es mittlerweile aber Routinevorgehen, einer OST zu Lasten der GKV nur dann durch die zuständige KV-Kommission zustimmen zu lassen, wenn der Nachweis einer stattfindenden PSB erfolgt.
Praxisproblem Therapiezugang
Der Zugang zu einer OST wird oftmals allein schon deshalb erschwert, weil in vielen Regionen Deutschlands (z. B. in den neuen Bundesländern und in ländlichen Bereichen) PSB gar nicht in Anspruch genommen werden kann, da entweder keine Unterstützungsstellen existieren oder weil diese z.T. lange Wartelisten führen. Darüber hinaus geschieht es nicht selten – im krassen Gegensatz zu Patienten mit anderen Krankheitsbildern -, dass Patienten von der Behandlung ausgeschlossen werden, wenn sie keine PSB in Anspruch nehmen wollen. Mit dem Junktim („Nur-wenn-dann…“) bzw. der Kopplung oder mit der Vorschaltung eines psychosozialen Filters in Form von Clearingverfahren vor Behandlungseintritt wird Opioidabhängigen der ohnehin schwierige Zugang zu einer international anerkannten medizinischen Behandlung ihrer Krankheit oftmals verwehrt bzw. er verzögert sich krankheitsunangemessen lang. Die OST ist z.T. (über-)lebenswichtig; sie sollte deshalb begonnen werden, wenn die ärztliche Indikation gestellt und die medizinischen Voraussetzungen erfüllt sind, und nicht verschoben werden auf einen Zeitpunkt der Klärung des  psychosozialen Betreuungsbedarfs. Diese Klärung kann später erfolgen, sie ist nicht lebensnotwendig wichtig.

Praxisproblem Kooperation
Die gezielte Koordinierung unterschiedlicher fachlicher Kompetenzen ist die zentrale Aufgabe von PSB-Fachkraft und Arzt in der OST. Beide müssen die sozialen und die medizinischen Krankheitsfaktoren in ihr Behandlungskonzept integrieren, sie müssen die zersplitterte Zuständigkeit verschiedener Institutionen, Organisationen und Ämter für den Klienten/Patienten überbrücken und jeweils die Aspekte der anderen Profession im Auge behalten. Zwar existieren mancherorts gut funktionierende interdisziplinäre multiprofessionelle Kooperationsformen zwischen Drogenhilfe und substituierenden Ärzten unter gegenseitiger Respektierung der jeweiligen Profession und fachlichen Kompetenz, doch sind diese positiven Erfahrungen keineswegs generalisierbar, denn nach wie vor gibt es vielerorts noch gravierende Kooperationsmängel. Mögliche Gründe sind u.a. fehlende zeitliche Ressourcen, mangelndes Interesse, Überforderung und fachliche Konflikte.
Tatsächlich treten nicht selten schwerwiegende Kompetenz-Konflikte auf, die sich sogar gelegentlich quasi zu einer „ZeroKooperation“ ausprägen, wobei entweder Drogenberatungsstellen von bestimmten Ärzten prinzipiell keine Klienten mehr übernehmen oder Ärzte zu bestimmten Beratungseinrichtungen strikt keine Patienten mehr vermitteln. Omnipotenzgehabe auf beiden Seiten ist angesichts der herausragenden Bedeutung der Substitutionsbehandlung für die Überlebenssicherung von Opiatabhängigen jedoch völlig unangemessen.

Richtlinien der Weltgesundheitsorganisation (WHO)
Die in 2009 aktualisierten WHO Guidelines für Substitutionsbehandlungen legen zwar ein besonderes Gewicht auf die Kombination pharmakologischer Behandlungen mit psychosozialen Unterstützungsangeboten, da sich dies als den Behandlungserfolg fördernd erwiesen hat, allerdings wird mit Nachdruck   hervorgehoben, dass die Hilfsangebote auf die individuellen Bedürfnisse der Patienten zugeschnitten und die Teilnahme daran freiwillig sein sollen (WHO 2009). Die NichtTeilnahme an PSB darf demnach keinen Behandlungsabbruch bedingen oder die Therapieaufnahme verhindern!

Richtlinien der Bundesärztekammer
Auch die aktuell geltenden Bundesärztekammer-Richtlinien aus 2010 gehen auf den Stellenwert der PSB in der OST ein: „Eine Opiatabhängigkeit wird in der Regel von psychischen und somatischen Erkrankungen sowie psychosozialen Problemlagen begleitet. Sie erfordert daher für ihre Behandlung die Vorhaltung sowie Einbeziehung entsprechender Maßnahmen.“
Und folgerichtig: „Psychosoziale Betreuung und ärztliche Behandlung sollen laufend koordiniert werden. Der substituierende Arzt wirkt darauf hin, dass die aktuell erforderlichen begleitenden Maßnahmen in Anspruch genommen werden.“
Und schließlich: „Zur Abwehr akuter gesundheitlicher Gefahren kann die Substitution ausnahmsweise auch dann erfolgen, wenn und solange eine psychosoziale Betreuung nicht möglich ist.“ Wenn diese Richtlinien zwar nur bedingt den WHO-Guidelines folgen, so ist mit dieser Neubewertung dennoch ein erster wichtiger Schritt zum Verlassen der deutschen Sonderposition unternommen worden, wird doch zumindest der Druck aus der nach wie vor als notwendig erachteten Verquickung von PSB und OST entschärft.

Empfehlungen
Auf der Grundlage bisher vorliegender Studienergebnisse und Praxiserfahrungen sind folgende Maßnahmen für eine psychosozialunterstützte OST zu empfehlen:
• Rechtliche Entkoppelung von pharmakologischer Behandlung und PSB;
• Rechtsanspruch für die Patienten auf Wiedereingliederung und Teilhabe i.S.d. SGB II und XII, d.h. die Abgabe des Substituts ist mit dem Angebot psychosozialer Unterstützung zu kombinieren, wobei allerdings die Nicht-Teilnahme an PSB 99  weder die Behandlungsaufnahme verzögern noch zum Behandlungsabbruch führen darf. Dieses Angebot (bei Nicht-Inanspruchnahme) ist periodisch zu überprüfen und evtl. zu erneuern;
• Die angemessene Form der psychosozialen Intervention/Unterstützung beruht auf umfassender Abklärung und individueller Behandlungsplanung in Absprache mit den Patienten;
• Forschung zur Effizienz und Effektivität von PSB;
• Qualifizierung („Fachkundenachweis“) für Professionelle, die PSB anbieten • Regelmäßige gemeinsame Qualitätszirkel aller beteiligten Fachrichtungen/Professionen
• Erarbeitung verbandsübergreifender, bundeseinheitlicher Leitlinien.

Literatur
Bundesärztekammer (2010) Richtlinien der Bundesärztekammer zur Durchführung der substitutionsgestützten Behandlung Opiatabhängiger vom 19.02.2010. In: Deutsches Ärzteblatt. 107. Jahrgang. Nr. 11. S. 511-516.
Gerlach R, Stöver H (Hrsg.) (2009): Psychosoziale Unterstützung in der Substitutionsbehandlung. Freiburg: Lambertus
Resing M., Stürmer M., Steininger S., Wiggenhauser K. (2014): Empfehlungen für die psychosoziale Betreuung substituierter opiatabhängiger Frauen und Männer. Bayerische Akademie für Suchtund Gesundheitsfragen hat 5.vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage 2014 http://www.basmuenchen.de/fileadmin/documents/pdf/Publikation en/BAS_EmpfehlungenPSB_2014.pdf
Wessel T (2009): Welche Bedeutung haben die neuen Guidelines der WHO für die PSB-unterstützte Substitutionsbehandlung? Vortrag auf Akzept e.V. Substitutionsbehandlung 2009, Berlin 2.12.2009 WHO (2009): Guidelines for the psychosocially assisted pharmacological treatment of opioid dependence. World Health Organisation. Geneva