Legalisierung aus Sicht der Eltern

Von Heidrun Behle und Jürgen Heimchen

Wie alle Eltern hatten auch wir den Wunsch, dass unsere Kinder sich nicht vom rechten Pfade abbringen ließen, insbesondere keine verbotenen Früchte probierten, und ihren Lebensweg weitab jeglicher Straffälligkeit beschreiten würden. Mit voller Wucht riss uns die Realität ins scheinbar Bodenlose, als wir vom Drogenkonsum unserer Kinder – auch noch Heroin ! – erfuhren. Die Abwärtsspirale der Familie war in Gang gesetzt: die Drogen konsumierenden Kinder gerieten mit dem Gesetz in Konflikt, hauptsächlich durch Beschaffungskriminalität, verloren die Arbeitsstelle oder waren nicht mehr in der Lage, ihre Ausbildung zum Abschluss zu bringen. Die Eltern kämpften nach allen Seiten: gegen ihre Kinder, die aufhören sollten damit; gegen ihre Ängste, dass der – illegale – Drogenkonsum in der Nachbarschaft und der Verwandtschaft auffallen könnte, dass die Polizei die Kinder erwischte; und zuletzt kämpften sie gegen ihre ständige Angst um das Leben ihrer Kinder an. Energie raubende und krank machende Umstände. Was liegt da näher als der Wunsch, die Drogen aus der Welt zu schaffen!?

Im Jahr 1993 fand der 2. Drogenkongress von akzept e. V. in Hamburg statt, den wir Eltern erstmalig besuchten. Wir wollten mithelfen, die Verelendung und das Sterben der Drogenkonsumenten zu stoppen. So weit waren wir dann schon. Aber die, aus unserer damaligen Sicht provokante, These des Kongresses „Ohne Legalisierung geht es nicht“ erschütterte uns zutiefst. Unsere Hoffnungen lagen bis dahin allein in den „Clean-Therapien“ und das Abstinenzdogma war verinnerlicht. Wieso forderten Vertreter der professionellen Drogenhilfe, Professoren und Ärzte die Legalisierung des Teufelszeugs?
Die täglich erlebte Realität des Drogen-Alltags unserer Kinder zwang uns zum Nachdenken. Die „Drogenkarriere“ ließ sich von uns nicht aufhalten. Wir erkannten, dass wir unsere 160    Kräfte anders einsetzen mussten. Wir konnten unsere Kinder nicht ändern, aber versuchen, die diskriminierenden Lebensbedingungen zu verbessern zugunsten menschenwürdiger Lebensmöglichkeiten. Wir wollten nicht länger gegen „die“ Drogen kämpfen, was ja hieß, alle Konsumenten illegaler Drogen, somit auch unsere eigenen Kinder, zu bekämpfen. Sie stattdessen in ihrer Sucht anzunehmen und zu helfen, wenn sie es wünschten, machten wir uns zur Aufgabe.

Das bedeutete auch, uns mehr Informationen über Abhängigkeit und Sucht zu beschaffen, die Wirkungsweisen der verschiedenen Drogen zu verstehen und uns auch mit der Geschichte der Drogen in den unterschiedlichen Epochen zu befassen. Wir lernten, dass psychoaktive Substanzen schon seit jeher Wegbegleiter der Menschheit über Jahrhunderte hinweg waren und zeitweise als Allheilmittel galten, aber genauso immer wieder verteufelt wurden – je nachdem, für was, für wen oder wozu es gerade passend war. Aus dem für uns neuen Blickwinkel heraus und mit dem Wissen, dass Cannabis bis ins 20. Jahrhundert gesellschaftlich integriert war, d. h., dass es bis dahin wirtschaftlich, medizinisch und genussorientiert genutzt wurde, entschlossen sich Eltern und Angehörige unseres Landesverbandes NRW im Mai 1997 eine Unterschriftenaktion für die Legalisierung von Cannabis am Hauptbahnhof in Essen durchzuführen. Innerhalb weniger Stunden sammelten sie über 3000 (dreitausend!) Unterschriften hierfür. Die Bildzeitung titelte am 12. Mai 1997: „Freigabe von Hasch – Eltern kämpfen dafür!“. Nach dieser Aktion wurde es etwas ruhiger bezüglich dieser Forderung, denn wir Eltern waren in den Folgejahren stark um das Überleben unserer opiatabhängigen Kinder und Angehörigen bemüht. Die Anzahl der Menschen, die Opfer der repressiven Drogenpolitik wurden, immer mehr verelendeten und starben, wuchs ständig.
Schließlich kamen wir nicht umhin, das Abstinenzparadigma zu hinterfragen. Wie kam es überhaupt dazu? Ein Paradigma ist ein kollektives Denkmodell, eine bestimmte Sache betreffend, das zur Gewohnheit wird und meist von einem ganzen Zeitalter geteilt wird. Es schafft eine gewisse Stabilität, aber auch Bequemlichkeit. So fragt man irgendwann nicht mehr, ob ein Gedanke richtig, nützlich oder hilfreich ist. Es genügt, dass alle es sagen. Die Achtsamkeit ist verschwunden, die Kreativität, anders zu denken, lässt nach. Außerdem ist der Abstinenzgedanke eng verknüpft mit der Prohibition, woraus wiederum die Tendenz entspringt, zu moralisieren und stigmatisieren.
Hier setzte bei uns abermals ein Umdenken ein. Denn etwas musste falsch sein am Abstinenzdogma. Wieso schränkten auch drastische Strafen, ja sogar Inhaftierung, den Konsum der illegalen Drogen nicht ein? Die vielen abgebrochenen Entgiftungen und nicht zu Ende geführten Langzeittherapien vor Augen und unsere inzwischen gewonnenen Kenntnisse veranlassten uns nun, Forderungen nach Konsumräumen, Spritzenvergabe in Haftanstalten, Heroinvergabe und weiteren Überlebenshilfen zu stellen. Heute, im Jahr 2014, sind einige dieser Forderungen erfüllt. So ist es an der Zeit, unsere Legalisierungsbestrebungen wieder nach vorne zu bringen. Unsere Erkenntnisse heute:

Die Trennung in legale / illegale Drogen ist politischer Natur und kulturhistorisch nicht zu begründen. Durch die Illegalisierung und Verbotspolitik entstehen gravierende Probleme. Die Prohibition kann niemals gesondert von den sozialen Begleiterscheinungen gesehen werden:
• Illegalität verhindert realistische Aufklärung, fördert Tabuisierung, hat Unwissenheit, Ignoranz und Diskriminierung zur Folge.
• Illegalität hat Beschaffungskriminalität und somit die Kriminalisierung der Konsumenten zur Folge, einhergehend mit immens hohen Kosten für die Strafverfolgungsbehörden bzw. für unsere Gesellschaft.
• Illegalität hat die Bildung mafioser, gefährlicher Strukturen zur Folge.
• Illegalität bietet keinerlei Sicherheiten bezüglich der Reinheit der Substanzen.
• Illegalität begünstigt Übertragung und Ausbreitung von Krankheiten wie Aids und Hepatitis. Illegalität und drastische Strafen schränken den Konsum kaum ein.

Eine Legalisierung hingegen würde unserer Meinung nach die oben aufgeführten Auswirkungen umkehren. Den letztgenannten Punkt betreffend: Die Anzahl der Drogengebraucher würde durch die Legalisierung kaum steigen! Die Erfahrungen in anderen Ländern zeigen das eindeutig und können dieses Argument der Legalisierungsgegner entkräften.
Unsere Vorstellungen von der Aufhebung der Prohibition haben wir festgehalten in einem Grundlagenpapier. Zu beachten ist, dass wir, gemäß unseren Erfahrungen und des jeweiligen Suchtpotenzials, unterschiedliche Vorgehensweisen bei Heroin und Cannabis gewählt haben.

Grundlagenpapier zur Legalisierung illegalisierter Drogen
1. Straffreiheit für den Besitz illegalisierter Drogen. Neben dem bereits straffreien Konsum illegalisierter Drogen soll auch der Besitz und Erwerb zum Eigenverbrauch straffrei sein.
2. Kontrollierte Vergabe von Originalsubstanzen an Drogengebraucher/innen. Substituierte, deren medizinische Behandlungen sich mit L-Polamidon bzw. Methadon und ähnlichen Produkten als erfolglos herausstellen, sollen die Möglichkeit bekommen, über eine kontrollierte Vergabe den Originalstoff zu erhalten. Die flächendeckende kontrollierte Vergabe von Heroin an Drogengebraucher/-innen soll nur über Ärzte und Apotheken erfolgen.
3. Kauf und Verkauf von Cannabis Kauf und Verkauf von Cannabis soll in Coffeeshop ähnlichen Geschäften wie z. B. in den Niederlanden mit geschultem Personal (Drogenfachkräfte) und der entsprechenden gewerblichen Lizenz erfolgen. Aufklärung und Beratung sollen über Drogenfachkräfte zwingend gewährleistet sein. Einschränkungen ergeben sich grundsätzlich aus dem Jugendschutzgesetz (Alter 16 Jahre) und der Straßenverkehrsordnung (Fahren ohne Drogeneinfluss) und dem Eigentumbzw. Hausrecht in dem Sinne, dass der Konsum nur dort erlaubt ist, wo die Rechte Dritter nicht berührt werden.
4. Werbung Allgemeines Werbeverbot für alle Drogen.
5. Qualitätsüberwachung Zum Schutz der Drogengebraucher/-innen soll durch die Lebensmittelüberwachung der Reinheitsgrad und die Qualität von Drogen sichergestellt werden.
6. Produkthaftung Bei fehlerhafter Herstellung und Verunreinigung der Produkte soll der Hersteller wie üblich haftbar gemacht werden.
7. Steuern Die aus dem Verkauf von Drogen erhobenen Steuern sollen ausschließlich an Hilfeeinrichtungen und in die Forschung im Drogenbereich fließen.
8. Aufklärung Grundsätzlich soll die allgemeine Aufklärung der Bevölkerung über Drogen und ihre möglichen Auswirkungen schon frühzeitig einsetzen und gesichert sein.

Schlussbemerkungen:
Legalisierung ohne Wenn und Aber! Und wir meinen auch L e g a l i s i e r u n g, nicht Entkriminalisierung. Denn zwangsläufig würde eine Legalisierung aller Drogen ja die Konsumenten tatsächlich ent-kriminalisieren. Der Begriff Entkriminalisierung allein ist für uns nicht aussagekräftig genug, denn er überließe den Ländern wieder Entscheidungsund Handlungsspielräume! Die Forderung nach Legalisierung bedeutet für unsere Gesellschaft letztendlich Kontrolle! Heute bestimmen Kriminelle nicht nur den Preis, sondern auch die Qualität, wer den Stoff verkauft, wohin der Gewinn fließt und an wen verkauft wird. Über die legalen Drogen (Alkohol, Tabletten, Kaffee, Nikotin) bestimmt der Staat bis ins kleinste Detail den Ablauf der Vermarktung. Es ist für uns nicht nachvollziehbar, dass die Politik Verbrechern das Geschäft überlässt und diese ungeschoren bleiben, während die Konsumenten per Gesetz zu Kriminellen gemacht werden. 162    Es wird höchste Zeit, diese Zustände zu ändern. Die Kontrolle aller Drogen gehört in die Hände unseres Staates.

Gleichwohl sind wir uns bewusst, dass es immer Menschen geben wird, die an einer Droge „hängen bleiben“ und süchtig werden. Das ist keine private Angelegenheit, sondern wir sind als Gesellschaft gefordert, die Hintergründe und Dispositionen der Konsumenten zu betrachten, die zu exzessivem Konsum und/oder zur Sucht führen. Und genau dort ansetzen mit Hilfen.
Francis Picabia formulierte den Spruch mit dem wir unsere Ausführungen beenden:

“Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung ändern kann“.

Erstveröffentlichung: Entkriminalisierung von Drogenkonsumenten-Legalisierung von Drogen (Hg.: Ralf Gerlach, Heino Stöver) – Fachhochschulverlag, Frankfurt. Band 32. Überarbeitete Fassung, April 2014