Von Olaf Schmitz
Infolge der Einführung des SGB II (Sozialgesetzbuch, zweites Buch) im Jahr 2005 wurden verschiedene Instrumente für Langzeitarbeitslose implementiert, die vor allem arbeitsmarktfernen Personengruppen mit mehrfachen Vermittlungshemmnissen einen Weg in Beschäftigung und Qualifizierung ebnen sollten. Die Möglichkeiten zur Schaffung von Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung (AGH MAE) nach § 16d SGB II (sog. „1-Euro-Jobs“) sowie von Arbeitsplätzen, die mit einem Beschäftigungszuschuss nach § 16e SGB II gefördert wurden, versetzten viele Einrichtungen der Suchthilfe und der Beschäftigungsförderung (erstmals) in die Lage, in größerem Umfang Arbeitsprojekte und Beschäftigungsmöglichkeiten für abhängigkeitskranke Menschen einzurichten, die ein Durchbrechen der Spirale suchtbedingter und -begleitender Ausgrenzungseffekte vom Arbeitsmarkt ermöglichten und so zur persönlichen Stabilisierung und Weiterentwicklung der TeilnehmerInnen beitragen.
Die Bandbreite der neu entstandenen Beschäftigungsmöglichkeiten für Abhängigkeitskranke war dabei ausgesprochen vielfältig. Sie reicht von unterstützenden Arbeiten in hauswirtschaftlichen oder haustechnischen Bereichen von Suchthilfeeinrichtungen, wodurch die Angebotsqualität und -quantität häufig spürbar verbessert wurde, über umfangreiche qualifizierende und tagesstrukturierende Maßnahmen mit verschiedensten Arbeitsbereichen bis hin zu unterschiedlichsten Projekten zur Verbesserung kommunaler oder regionaler Infrastruktur mit spürbarem Nutzen für die Allgemeinheit.
Ergänzt wurden diese meist niedrigschwelligen Beschäftigungsmöglichkeiten durch die öffentliche Förderung längerfristiger sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung, die die Einrichtung neuer Arbeitsplätze in sozialen Einrichtungen oder eine Vermittlung in Betriebe des allgemeinen Arbeitsmarktes ermöglichte.
Die positiven Auswirkungen und Potenziale dieses Ausbaus von Beschäftigungsmöglichkeiten und einer stärkeren Fokussierung auch auf die berufliche Teilhabe suchtkranker Menschen haben sich dabei in den letzten Jahren eindeutig erwiesen:
Häufig trägt eine sinnstiftende Beschäftigung dazu bei, eine erreichte Abstinenz zu festigen bzw. Alkoholund/ oder Drogenkonsum erheblich zu reduzieren. Eine Stabilisierung der psychosozialen Situation kann oftmals durch begleitende Beratungsund Betreuungsangebote erreicht werden: Allgemeine und arbeitsmarktbezogene Schlüsselqualifikationen werden verbessert, Straffälligkeit wird vermieden oder Schuldenproblematiken können reguliert werden. Beschäftigungsangebote, die vorhandene psychische oder somatische Beeinträchtigungen berücksichtigen und angemessene Anforderungen an die Beschäftigten stellen, tragen oftmals zu einer Steigerung der Leistungsfähigkeit, einer Verbesserung des Gesundheitszustands sowie zu einer Stärkung des Selbstwertgefühls und der Selbstregulierungspotenziale für eine persönliche Weiterentwicklung bei. Weiterbildende und qualifizierende Elemente sowie eine aktive und integrierte Auseinandersetzung mit beruflichen und psychosozialen Entwicklungsperspektiven sind notwendige Schritte auf dem Weg in eine längerfristige soziale und berufliche Integration und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.
Die Erfahrungen und Erfolge dieser Maßnahmen sprechen also eigentlich deutlich dafür, Beschäftigungsangebote für Suchtkranke flächendeckend in Deutschland auszubauen und die in den letzten Jahren gewachsenen Strukturen weiterzuentwickeln oder zumindest den Bestand zu sichern. Stattdessen sind viele dieser Maßnahmen seit Beginn 2011 durch massive Einschnitte bei den Eingliederungsleistungen für erwerbsfähige Hilfebedürftige nach dem SGB II sowie durch die 2012 in Kraft getretene Instrumentenreform durch das „Gesetz zur Leistungssteigerung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente“ in ihrem Bestand bedroht oder mussten bereits eingestellt werden.
Die folgenden Zahlen belegen eindrucksvoll die Dimension der Sparpolitik der letzten Jahre im Bereich beschäftigungspolitischer Instrumente: 2010 wurden den Jobcentern bundesweit noch 6,6 Milliarden Euro für „Leistungen zur Eingliederung nach dem SGB II“ zugewiesen, seitdem aber bis 2013 sukzessive um 41 % auf 3,9 Mrd. Euro reduziert. Die Zahl der AGH MAE-Plätze wurden von Februar 2010 bis Februar 2014 um 71 % zusammengestrichen (02/2010: 288.253 Plätze, 02/2014: 84.109 Plätze), mit Lohnkostenzuschüssen nach § 16e SGB II geförderte Arbeitsplätze gar um über 80 % (von 42.286 Plätzen im Februar 2010 auf 8.152 Plätze im Februar 2014). Vergleichsweise glimpflich betroffen waren Qualifizierungsmaßnahmen mit einer Bestandsreduzierung von 33 % 53 .
Längst nicht allen Trägern ist es möglich, auf dem Hintergrund sich verringernder Förderungen zumindest „abgespeckte“ Arbeitsangebote aufrechtzuerhalten. Personelle und qualitative Einschränkungen erschweren es dabei immer mehr, den spezifischen und multiplen Bedarfen der Zielgruppe abhängigkeitskranker Menschen gerecht zu werden.
Eine im November 2013 durchgeführte telefonische Befragung von insgesamt 16 Trägern in NRW (Schmitz 2013) 54 , die nach Einführung des SGB II Anfang 2005 Arbeitsprojekte für Suchtkranke aufgebaut bzw. unterhalten haben, verdeutlicht die flächendeckenden Auswirkungen der Sparpolitik seit 2010: 4 befragte Träger haben ihre Beschäftigungsangebote vollständig eingestellt, weitere 7 Träger berichteten von Kürzungen der Teilnehmerplätze (insgesamt sind bei allen 16 Trägern von ursprünglich 449 Plätzen mehr als 100 weggebrochen, eine Reduzierung um 22,5 %) und z.T. erheblichen Einbußen bei der finanziellen Ausstattung der Maßnahmen; lediglich 5 Träger gaben an, keine nennenswerten Einbußen gehabt zu haben.
Dass diese Erhebung für das Bundesgebiet nicht repräsentativ sein dürfte und die Einschnitte von Beschäftigungsangeboten auch für die Personengruppe abhängigkeitskranker Menschen wahrscheinlich insgesamt noch drastischer ausfallen, zeigt die jüngst erschienene Längsschnittumfrage zur Arbeitsmarktpolitik des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes unter seinen Mitgliedseinrichtungen: „In den vier Untersuchungsjahren ist bei den in der Arbeitsförderung tätigen Mitgliedsorganisationen die Zahl ihrer Teilnehmer um insgesamt 49 Prozent reduziert worden. Am stärksten sind die Verluste bei den Arbeitsgelegenheiten, die in zwei Jahren um zwei Drittel verringert wurden.“ 55 Wie wichtig es indes wäre, gerade suchtkranken Personen eine Beschäftigungsperspektive zu bieten, „zeigt die ARA-Studie (Henkel, Zemlin 2004-2008), wonach unter Bedingungen von Arbeitslosigkeit 35% der Alkoholabhängigen bereits im ersten Monat nach einer Suchtrehabilitation rückfällig wurden, hingegen nur 19% unter Bedingungen von Erwerbstätigkeit. Umso dringlicher wäre daher wenigstens die nahtlose Vermittlung in arbeitsmarktpolitische Beschäftigungsund Qualifizierungsmaßnahmen (z.B. „1-Euro-Jobs“, berufliche Weiterbildung).“ 56
Doch die Auswirkungen sind nicht nur quantitativer Natur: Durch das im April 2012 in Kraft getretene „Gesetz zur Leistungssteigerung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente“ haben sich Förderbedingungen für Beschäftigungsträger und Leistungsempfänger zusätzlich verschlechtert: Während Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung vor der Instrumentenreform angemessene Qualifizierungsund Betreuungselemente enthalten konnten und sollten, ist seitdem eine ausschließliche Beschäftigung vorgesehen und förderungsfähig. Für suchtkranke Menschen mit ihren oftmals multiplen Problemlagen fallen somit Fördermöglichkeiten für Unterstützungsangebote weg, die für eine erfolgversprechende Teilnahme an den Beschäftigungsangeboten oftmals unabdinglich sind. Im besten Falle werden diese dann von den (Suchthilfe-) Trägern noch nebenher vom vorhandenen Personal erbracht oder sie entfallen gänzlich.
Um (in Ergänzung zur Beschäftigung in AGH MAE) Qualifizierungsangebote für die oftmals sehr gering qualifizierten Teilnehmenden in Arbeitsprojekten anbieten und notwendige Finanzierungsmöglichkeiten nutzen zu können, müssen Beschäftigungsträger sich seit Ende 2012 einem zeitund kostenintensiven Zertifizierungsprozess nach den Qualitätsstandards der Bundesagentur für Arbeit unterziehen. Entgegen der bisherigen Praxis vieler Jobcenter, gezielt geeignete örtliche Träger über eine sogenannte freihändige Vergabe mit der Durchführung solcher zielgruppenspezifischen Maßnahmen zu beauftragen, müssen diese nun in der Regel als „Aktivierungsmaßnahmen“ gem. § 45 SGB III öffentlich ausgeschrieben werden. Alternativ können die Jobcenter ausgewählten Trägern auch über sogenannte Gutscheinverfahren Teilnehmende für Qualifizierungen zuweisen; allerdings muss auch in diesem Fall ein entsprechendes Trägerkonzept zertifiziert und die notwendige Infrastruktur vom Träger vorgehalten werden. Bleiben die geplanten Plätze unbesetzt, liegt das finanzielle Risiko ausschließlich bei dem Träger. Dass längst nicht alle Einrichtungen in der Lage und willens sind, sich diesem Aufwand zu stellen und die Kosten hierfür aufzubringen, liegt auf der Hand.
Doch auch wenn Träger in einer Kommune oder Region diese Hürden überwinden und entsprechende Angebote vorhalten, eröffnet sich durch die geänderten rechtlichen Rahmenbedingungen ein weiteres Problem: Eine neuerdings gesetzlich vorgesehene Beschränkung der Teilnahmedauer an Arbeitsgelegenheiten wie auch der Beschäftigung in bezuschussten sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnissen auf max. 24 Monate innerhalb von 5 Jahren wird außerdem zukünftig in vielen Fällen dazu führen, dass Personen, die in diesem begrenzten Zeitrahmen nicht in den ersten Arbeitsmarkt integriert werden können, weitere Beschäftigung verwehrt bleibt.
Die Erwerbsbiografien langjährig abhängigkeitskranker Menschen sind oftmals von fehlender Ausbildung, kurzen und niedrig qualifizierten Beschäftigungsverhältnissen, langen Zeiten der Arbeitslosigkeit und/oder Inhaftierungen geprägt und viele weisen durch posttraumatische Belastungsstörungen, komorbide physische oder psychische Erkrankungen sowie durch Schulden, Vorstrafen, fehlende Fahrerlaubnis etc. zusätzliche Benachteiligungen in ihrer Beschäftigungsfähigkeit auf. Deshalb braucht diese Zielgruppe oftmals eine langfristig angelegte, intensive, flexible, vernetzte und vielfältige Betreuung.
Idealerweise umfasst die Angebotspalette der Betreuung die (Wieder-) Heranführung an eine regelmäßige Tagesstruktur, an arbeitsimmanente Anforderungen und Belastungen sowie arbeitsweltorientierte Qualifizierung bis hin zur flankierenden Bearbeitung psychosozialer und gesundheitlicher Problemlagen bzw. Vermittlung in entsprechende begleitende Hilfen.
Aber auch unter solch günstigen Rahmenbedingungen wäre eine Wiedereingliederung in den ersten Arbeitsmarkt bei weitem nicht immer eine realistische Perspektive, da viele abhängigkeitskranke Personen trotzdem auch auf längere Sicht die Anforderungen des ersten Arbeitsmarktes nicht erfüllen können bzw. sie keinen Zugang zu einem passenden Arbeitsplatz erhalten. Auch für diesen Teil der Zielgruppe werden weiterhin Beschäftigungsangebote mit Qualifizierung, sozialpädagogischer Betreuung und ggf. langfristiger Beschäftigungsperspektive gebraucht. Viele Menschen mit einer Suchterkrankung brauchen aufgrund von kumulierten Problemlagen einfach mehr Zeit und vernetzte Angebote, bis eine Integration gelingen kann. Für diejenigen, für die auch längerfristig der erste Arbeitsmarkt nicht erreichbar scheint, sind diese Angebote weiterhin dringend notwendig, weil sie soziale Teilhabe sicherstellen und Behandlungsverläufe positiv beeinflussen und somit ein wichtiger Baustein in der komplexen Bearbeitung von Suchtproblemen sind. Der Wegfall solcher Möglichkeiten gefährdet dementsprechend persönliche Entwicklungsverläufe bzw. lässt positive Synergieeffekte in der Suchtbehandlung ungenutzt verstreichen. Eine Investition in solche Maßnahmen ist dementsprechend nicht nur aus arbeitsmarktorientierten, sondern zudem aus gesundheitspolitischen und humanitären Gründen sinnvoll und auch ökonomisch, da sie potenzielle Folgekosten u.a. im Justizund Gesundheitswesen reduzieren.
Angesichts der weitreichenden Bedeutung von Beschäftigungsangeboten mit Qualifizierung und begleitenden Hilfen im Rahmen der Suchtkrankenhilfe läuft die Fokussierung auf eine kurzfristige Vermittlung in den ersten Arbeitsmarkt als ausschließlichem Erfolgsmaßstab für diese Zielgruppe völlig fehl. Individuelle Ausprägungen von Krankheitsverläufen, psychosozialen Lebenslagen und beruflichem Werdegang erfordern ein differenziertes Angebot an Beschäftigungsund Qualifizierungsangeboten.
Um (noch) vorhandene Strukturen abzusichern und diese zum Nutzen der Betroffenen zu konsolidieren und weiter auszubauen, ist gerade an diesem Punkt eine aktive gemeinschaftliche Sozial-, Arbeitsmarktund Gesundheitspolitik gefordert, die eine an den spezifischen Erfordernissen Abhängigkeitskranker orientierte (Weiter-) Entwicklung geeigneter Instrumente ermöglicht. Zudem ist aktuell mehr denn je ein offenes und kreatives Zusammenwirken aller mit Angeboten zur beruflichen, sozialen und medizinischen Wiedereingliederung befassten Akteure und Fördergeber vonnöten, um vorhandene Instrumente möglichst sinnvoll, komplementär und wirtschaftlich im Sinne einer Stabilisierung und Integration der suchtkranken Menschen zu nutzen.
Schließlich ist immer wieder die Politik gefordert, rechtliche Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass möglichst barrierefreie Schnittstellen zwischen den verschiedenen Fördermaßnahmen und Eingliederungshilfen möglich sind, um langfristig positive Entwicklungsverläufe nicht zu gefährden bzw. erst zu ermöglichen.
53 Bundesagentur für Arbeit: Der Arbeitsund Ausbildungsmarkt in Deutschland – Monatsbericht Februar 2010, Nürnberg 2010 und Monatsbericht Februar 2014, Nürnberg 2014
54 53. DHS-Fachkonferenz Sucht zum Thema: „Sucht und Arbeit“, Vortrag Olaf Schmitz (Krisenhilfe Bochum), Essen 05.11.2013
55 Der Paritätische Gesamtverband: Längsschnittumfrage zur Arbeitsmarktpolitik zwischen 2010 und 2013 Tiefgreifende Einschnitte bei der Förderung von Langzeitarbeitslosen, Berlin 2014 56 53. DHS-Fachkonferenz Sucht zum Thema: „Sucht und Arbeit“, Vortrag „Integration Suchtkranker in Arbeit Stagnation auf niedrigem Niveau“, Prof. Dr. Dieter Henkel (Fachhochschule Frankfurt a.M.), Essen 04.11.2013